Als der junge Schriftsteller Velibor Čolić in den neunziger Jahren als Deserteur der bosnischen Armee nach Rennes kam, hatte er genau drei Wörter Französisch im Gepäck: Jean, Paul und Sartre. Im Leipziger Literaturcafé spricht er fast 30 Jahre später über seinen Neuanfang im Exil und wie er es am Ende doch geschafft hat, ein französischer Schriftsteller zu werden.

Als ich das Literaturcafé betrete, empfängt mich eine ruhige Atmosphäre: noch sitzen relativ wenige Besucher an den Tischen – eine Frau blättert in einem Inselbuch, eine andere korrigiert einen Text, während sie zwischendurch immer wieder an ihrem Rotweinglas nippt. Dann tritt Velibor Čolić in Begleitung eines anderen Mannes ein und ich bin beeindruckt: Ungefähr eine Stunde zuvor habe ich sein Buch zugeklappt, welches die Geschichte und die Gedanken seines 28-jährigen Ichs erzählt. Wie er sich jetzt, lächelnd, den anderen Personen an seinem Tisch mit einem sympathischen »Hallo, ich bin Velibor« vorstellt, sieht man ihm kaum an, was er wohl einst durchgemacht haben muss. Der Autor stammt aus einer bosnischen Kleinstadt, welche vom Krieg zerstört wurde, aus einem Land, das es heute nicht mehr gibt. Während in seiner Heimat der neunziger Jahre der Krieg tobte, in dem Čolić zunächst als Soldat gedient hatte, begab er sich als Deserteur der bosnischen Armee und junger Schriftsteller auf einen langen Weg nach Frankreich. Angekommen in Rennes hatte er schließlich nur drei Wörter Französisch im Gepäck: Jean, Paul und Sartre – einer von Čolićs Lieblingssätzen, wie er später anmerkt. Dieses recht begrenzte Vokabular war ein Problem, wollte er doch französischer Schriftsteller werden. In seinem Roman »Die Welt ist ein großer Flipper«, im Französischen »Manuel d’exil«, erzählt Velibor Čolić auf tieftraurig-melancholische, aber auch auf ehrliche und ironisch-lustige Art, wie er als Flüchtling »am Ende seines ersten Lebens angelangt« ist und seine zweite Existenz im Exil begann. Eine kalte und harte Zeit, nach der er sein Ziel schlussendlich doch erreicht hat.
Ich blicke durch die Glasfassade des Cafés, welche mir einen Blick auf den saftig grünen Garten des Hauses des Buches bietet, während ich dem Gespräch an Čolićs Tisch lausche – es ist ein Mix aus deutschen, französischen und serbisch-kroatischen Wörtern. Nachdem noch schnell die exakte Aussprache einzelner serbisch-kroatischer Wörter mit Dolmetscher Ralf Pannowitsch geklärt wurde, beginnt die Lesung: Wie sich herausstellt, ist Čolićs Begleitung, Mirsad Maglajac, ein alter Jugendfreund aus Bosnien und der heutige Moderator. Dass beide ein ähnliches Schicksal teilen, wird deutlich, als einzelne Textpassagen vorgelesen werden – teils auf Deutsch von Pannowitsch und teils auf der Exilsprache Französisch vom Autor selbst. Ein besonders grausamer Abschnitt berichtet über den Schützengraben an der bosnischen Front und ist voller Kälte, Angst und Ausweglosigkeit. Dem abwesenden Blick von Čolić und seinem sichtlich gerührten Jugendfreund ist zu entnehmen, wie schmerzlich und präsent beiden die Erinnerungen auch heute noch sind. »Der Teil ist sehr traurig«, sagt Čolić und schmunzelt: »Also auf Französisch ist er viel lustiger.« Das Publikum muss lachen, und ich denke mir, dass es genau diese erstaunlichen Übergänge zwischen tieftraurig und lustig sind, die der Autor auch in seinem Buch immer wieder geschaffen hat. So folgen auf sehr bewegende Passagen zum Beispiel Ausschnitte dreier Liebesgeschichten und eine kleine Anekdote, in der der Autor, welcher zu einem Zeitpunkt, zu dem er noch nicht perfekt das Französische beherrschte, in einem Kaufhaus eigentlich ein Brot (le pain) kaufen wollte, jedoch fälschlicherweise »la pain« bestellte und somit ein Kaninchen, »lapin«, in der Wurstwarenabteilung erhielt.

Im zweiten Teil der Lesung stellt Mirsad Maglajac dem Autor einige Fragen, die Pannowitsch ins Französische übersetzt – Čolić antwortet – Pannowitsch übersetzt wieder ins Deutsche. Die Antworten des Autors zeigen erneut, welche überlebenswichtige Rolle die Literatur, das Schreiben und die großen Schriftsteller dieser Welt in seinem Leben gespielt haben. Wie in seinem Buch drückt er sich in bedeutungsschweren, poetischen Sätzen aus, die genauso als Zitate hätten abgedruckt werden können. Beispielsweise habe er sich während seiner Flucht wie ein kleines Tier gefühlt, und das obwohl er eigentlich 1,96 Meter groß sei. Obwohl ihm die kalte Gleichgültigkeit des Westens damals wie eine Ohrfeige entgegengeschlagen sei, habe Čolić das Exil wie eine zweite Chance gesehen: um eine Sprache zu lernen, aber auch, um das Leben und Vergessen zu lernen. So vergleicht der Autor das Französische heute mit einer gemieteten Wohnung, die zwar nicht ihm gehöre, in der er sich aber so gut es geht einrichte. Auf die Frage aus dem Publikum, ob die Muttersprache die Persönlichkeit forme, erwidert er schließlich: »Die Muttersprache ist alles. Auch wenn ich meine verlassen habe, habe ich sie nicht vergessen.« Ein weiterer bewegender Moment, mit dem Čolić eine nachdenkliche Stille im Raum erzeugt, denn er antwortet zum ersten Mal an diesem Abend auf serbisch-kroatisch.
Am Ende der Lesung, bei der von emotionaler und nachdenklicher Stimmung, bis zur lockeren und lustigen Atmosphäre alles dabei war, beendet Mirsad Maglajac den Abend mit folgenden Worten: »Vielen Dank für Ihr Interesse für Velibor Čolić, dem französischen Schriftsteller.« Čolić grinst und nickt.
Beitragsbild: Alte Jugendfreunde: Mirsad Maglajac (links) und Velibor Čolić kennen sich, seitdem sie 13 Jahre alt sind. © Lisa Claus
Die Veranstaltung:»Die Welt ist ein großer Flipper«: Velibor Čolić im Gespräch mit Mirsad Maglajac. Dolmetschen und deutsche Lesung: Ralf Pannowitsch. Veranstaltungsreihe: „Wir Strebermigranten“, Literaturcafé im Literaturhaus Leipzig, 12.6.2018, 19.30 Uhr
Das Buch: Velibor Čolić: Die Welt ist ein großer Flipper. Aus dem Französischen von: Claudia Steinitz, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2017, 208 Seiten, 20 Euro
Die Rezensentin: Lisa Claus