Warum eine nicht stattfindende Lesung Céline Minards Roman »Das große Spiel« am ehesten gerecht wird.
Gesäumt von zwei Klavieren steht der Lesetisch da und wartet. Begleitet von den Glockenschlägen der gegenüberliegenden Nikolaikirche füllt sich am Samstag gegen 17 Uhr die Richard-Wagner-Aula in der Alten Nikolaischule. Das sich einfindende Publikum tauscht Literaturempfehlungen, studiert den Veranstaltungskalender der Buchmesse, liest, döst oder übt sich in stiller Geduld. Kurz nach 17 Uhr ist jeder Platz besetzt und die restlichen Gäste machen es sich auf dem Boden bequem oder lehnen sich an die Wände. Doch ein Stuhl bleibt leer.
Als die Veranstalterin ankündigt, dass Céline Minard bislang nicht eingetroffen sei und sich der Beginn der Lesung verzögern werde, hebt sich ein Raunen aus den Reihen der Wartenden. Mancher steht noch einmal auf, um den Büchertisch im Vorraum zu betrachten oder ein Telefonat zu führen, andere dösen wieder weg.

Anfang Februar erschien Minards Roman »Das große Spiel« in deutscher Sprache. Darin zieht sich die Protagonistin in die Einsamkeit der Alpen zurück, um in einer hochmodernen »aus glasfaserverstärktem Kunststoff und Hart-PVC« gefertigten und auf einem Granitvorsprung befestigten Wohnröhre ein Leben abseits anderer Menschen zu führen. Klar und berechnend schaut sie von dort auf ihre Umwelt. Sie sieht die eisklaren Bäche und steilen Felswände, die so lange unüberwindbar sind, bis ihr präziser Blick genügend Haltepunkte gefunden und aus ihnen die Möglichkeit zur Überwindung erschaffen hat.
Weder ist der Roman asketische Hingabe an die Stille oder romantische Naturbetrachtung noch ein erzähltes Abenteuer. Vielmehr geht es um die Fixierung des Individuums in der Welt, der Gesellschaft und im Leben. Ein treffenderes Umfeld als die alpine Bergkulisse hätte nicht gewählt werden können. Der berechnende Blick nach Außen wechselt sich ab mit reflektierenden Betrachtungen über das Menschsein und das gesellschaftliche Miteinander. Gnadenlos wird erkundet, wo sich menschliche Beziehungen im Spannungsfeld zwischen Versprechen und Drohung verorten lassen. Indem dabei unklar bleibt, wer sich hier eigentlich die Bergwelt aneignet und den existenziellen Anforderungen des Lebens stellt, wird die Protagonistin zur Projektionsfläche für die Frage, was jemanden dazu bewegen mag, dem »großen Spiel« zu entsagen. Und ob es die Möglichkeit des Aussteigens überhaupt gibt, weiß der Roman auf seine eigene Art zu beantworten.
Nicht beantwortet wird dagegen die Frage, wo sich Céline Minard zum Zeitpunkt ihrer Lesung befindet. Auch die Veranstalter haben keine Informationen und vermuten, dass der hereingebrochene Winter sie auf der Straße zwischen Messegelände und Stadt gefangen hält. So bleibt die Autorin ebenso ungreifbar wie ihre Protagonistin. Beide hinterlassen eine Lücke im Leben der Anderen. Ihre Romanfigur ist ein namenloser Blick in die Welt, Céline Minard heute nur ein Name.
Ein leerer Stuhl in einem Raum erinnert daran, wieso sich die Menschen in ihm versammelt haben. Es ist ein nachvollziehbarer Spielzug von ihnen, hierhergekommen zu sein. Aber manchmal sind es nicht die Spieler, manchmal bestimmt das Spiel selbst die Regeln. Und auch die Buchmesse ist ein großes Spiel.
Beitragsbild: Das wartende Publikum und der leere Lesetisch. © Kilian Thomas
Die Veranstaltung: fiel aus. Stattgefunden hätte sie in der Richard-Wagner-Aula der Alten Nikolaischule, 17.3.18, 17 Uhr
Das Buch: Céline Minard: Das große Spiel. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 185 Seiten, 20,00 Euro
Der Rezensent: Kilian Thomas
Großartige Rezension! Hut ab!