Von unsichtbaren Polen und Turbodeutschen

Emilia Smechowski liest im Literaturcafé des Haus des Buches aus ihrem Debütroman »Wir Strebermigranten« und wird dabei von Claudius Nießen, dem Geschäftsführer des Deutschen Literaturinstituts, charmant ausgefragt.

© Hanser Berlin

Eigentlich ist es viel zu kalt, um sich an diesem Dienstagabend noch aus dem Haus zu trauen. Trotzdem ist der halb gläserne Raum des Cafés gut gefüllt mit einem lebhaften und gemischten Publikum. Neben dem üblichen Wasserglas steht eine dampfende Tasse Tee auf dem Tisch vor Emilia Smechowski.

»Wir Strebermigranten« ist ein sehr persönliches Buch, denn es erzählt die Geschichte von Emilia und gleichzeitig auch die hunderttausender anderer Polen, die vor der Wende durch einen glücklichen Zufall im Stammbaum aus Polen nach Westberlin einreisen konnten. Emilka fährt 1988 mit ihren Eltern von Wejherowo nach Westberlin und heißt plötzlich Emilia. Die damals Fünfjährige ahnt nicht, dass es für immer sein wird. Der Anfang einer Assimilationsgeschichte, die so viele Menschen zu dieser Zeit erlebten.

Claudius Nießen stellt der Autorin ein paar Fragen im Plauderton, bevor sie anfängt zu lesen und mit ihrer klaren und sanften, jedoch bestimmten Stimme den Raum füllt. Sofort ist man im Kopf der 16-jährigen Emilia, die das spießige Oberschichtenleben ihrer Eltern satt hat und auszieht, um ihren Traum zu verwirklichen: Sie möchte Opernsängerin werden. Als sie ihren Eltern von ihren Plänen erzählt, sagt ihr Vater nur eines: »Das schaffst du nie!«

Die Smechowskis durchlaufen nach ihrer Ankunft in Deutschland eine rasende Assimilation: Beide Eltern Ärzte, Latein, Altgriechisch, Ballett und bloß kein Polnisch auf der Straße reden: Turbodeutsche. Aus Protest gegen das ständige »Psst!« ihrer Mutter, sagt Emilia dann irgendwann gar nichts mehr. Erst später begreift die Autorin, dass es den meisten Polen genauso ging. Sie schämten sich für ihre Herkunft, sie hatten etwas zu verbergen, etwas aufzuholen, also wurden sie als Migranten unsichtbar. Ein Phänomen, das bis heute andauert.

Es fällt leicht, Emilia Smechowski zuzuhören. Sie erzählt fesselnd und ehrlich von ihrer Sehnsucht nach Polen, der polnischen Großmutter und von dem Moment in ihrer Kindheit, in dem sie erkennt, dass sie nie an der Riviera ankommen wird. Eine Lüge ihrer Eltern, um die polnischen Behörden nicht auf sie aufmerksam zu machen.

Emilia Smechowski 2017. © Linda Rosa Saal

Trotz der melancholisch angehauchten Geschichte wird im Publikum konstant geschmunzelt und geprustet. Der Text ist nicht nur fantastisch amüsant geschrieben, er ist zugleich auch realistisch, bissig und mit einer genauen Beobachtungsgabe versehen. Zudem entfachen seine erstaunlichen Anekdoten eine besondere Art von Nähe. Im Roman geht es um so viel mehr als um Integration: Es geht um Familie und um Rebellion, Befreiung aus dem elterlichen Gefängnis und ums Vergeben – auch sich selbst. Smechowski berührt mit ihrer Offenheit und ihrer Geschichte.

Gegen Ende der Lesung soll es noch eine Fragerunde geben. Claudius Nießen bittet jedoch darum, eine Frage nicht zu stellen, die scheinbar immer wieder gestellt wird. Die Autorin weiß nicht warum, aber es scheint etwas typisch Deutsches zu sein, dieses Schubladendenken: Was bist du denn nun? Zu wie viel Prozent polnisch fühlst du dich? – Gerade darum soll es doch in ihrem Buch gar nicht gehen!

Die Lesung ist zu Ende, Beifall brandet auf. Es ist Emilia Smechowskis letzte Lesung bevor sie, gemeinsam mit ihrer Tochter, für ein Jahr nach Polen ziehen wird. Geplant ist die Arbeit an einem Buch über die Geschichten der Menschen dort, über die Lage der Gesellschaft.

Beitragsbild: Emilia Smechowski (rechts) und Claudius Nießen (links). © Anna Sophia Wurm


Die Veranstaltung: Emilia Smechowski liest aus Wir Strebermigranten, Moderation: Claudius Nießen, Literaturcafé im Haus des Buches Leipzig, 27.2.2018, 19.30 Uhr

Das Buch: Emilia Smechowski: Wir Strebermigranten. Hanser, München 2017, 224 Seiten, 22 Euro, E-Book 16,99 Euro


 

 

Die Rezensentin: Anna Sophia Wurm