»Und am Ende landest du bei deiner Mutter – und das ist gut so«

Ein Debütroman vom Freisein und der eigenen Neuerfindung. Ohne zu wissen, wer man eigentlich ist.

Im gemütlichen Literaturcafé des Haus des Buches beginnt die Lesung mit Sasha Marianna Salzmann. Es startet mit einem kleinen Abriss ihrer Biografie, vorgetragen sowohl vom Moderator Michael Ostheimer als auch von der Autorin selbst. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Frage gelegt, wie die erfahrene Dramaturgin zum Buch fand.

In Wolgograd geboren, lebte sie bis 1955 in Moskau und danach in Deutschland. Von da an zog es sie quer durch die Bundesrepublik, später aber auch in die Türkei nach Istanbul. Dort, so erzählt sie, erwachte in ihr der Drang zum Schreiben, nur diesmal kein Theaterstück, sondern ein Buch. Es sollte eigentlich um die politischen Unruhen in Istanbul gehen, doch die Kunst verselbständigte sich »und am Ende landest du bei deiner Mutter«. Es entstand also ein Roman mit einer 100-jährigen Familiengeschichte.

© Suhrkamp Verlag

All das erfährt das Publikum noch bevor Sasha Marianna Salzmann das Buch »Außer sich« aufgeschlagen hat und überhaupt zu lesen beginnt. Als sie jedoch endlich die ersten Seiten vorträgt, werden die Zuhörer sogleich gefesselt. Ihre klare Sprechweise und der warme Klang ihrer Stimme ziehen jeden sofort in den Bann der Geschichte. Die Geschichte von Ali, die sich nach Istanbul begibt, um ihren Zwillingsbruder, Anton, zu finden. In ein fremdes Land, weg von der Vergangenheit, weg von den jüdischen Groß- und Urgroßeltern, die sich in Russland durchschlugen, weg von den Eltern, die sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen versuchten und vor allem aber weg von sich selbst.

Da wirken die Gespräche zwischen den drei Leseblöcken wie ein schriller Wecker, der einen aus einem tiefen Schlaf holt. Die ausschweifenden Fragen des Moderators stören die leicht melancholische Stimmung, die vorher im Leseabschnitt aufgebaut wurde. Dennoch ist es faszinierend den Antworten Salzmanns zuzuhören, die nun über Zeit und Musik in ihrem Buch spricht. Sie beschreibt einen Fluss der Worte, der pro Kapitel ganz unterschiedliche Klänge haben kann. So bringt das Spiel mit der russischen und jiddischen Sprache, neben der deutschen und vereinzelt türkischen, einen ganz eigenen Rhythmus mit ein, aber auch ein Stück eigene Kultur. Neben der Musik ist die Zeit ein wichtiges Thema innerhalb des Buches, kann man sie anhand geschichtlicher Fakten doch klar festmachen. Dennoch scheint sie an manchen Stellen regelrecht zu rennen und an anderen ist sie zäh wie Gummi. Auch an diesem Abend scheint die Zeit eine unfassbare Größe zu sein, so gehen die 90 Minuten Lesung vorbei, ohne dass man es merkt.

Als auch schon der letzte Leseblock ausklingt, weiß selbst der engagierte Moderator nichts mehr zu sagen und kann das Publikum nur noch entlassen. Ein gelungener Abend, der Facetten und Hintergründe des Buches offen gelegt hat, die man durch bloßes Lesen nicht hätte erlangen können. Mit neu gewonnenen Eindrücken über Selbstfindung und Selbstverlust verlassen die Besucher die Lesung. In der Tasche ein signiertes Buch und mit dem Gedanken im Kopf: »Und am Ende landest du bei deiner Mutter – und das ist gut so.«

Beitragsbild: Sasha Marianna Salzmann (links) im Gespräch mit Michael Ostheimer (rechts). © Charlotte Kuschka


Die Veranstaltung: Sasha Marianna Salzmann liest aus ihrem Buch Außer sich, Moderation: Michael Ostheimer, Haus des Buches, Literaturcafé Leipzig, 23.1.2018, 19.30 Uhr

Das Buch: Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Suhrkamp, Berlin 2017, 366 Seiten, 20 Euro, E-Book 18,99 Euro


 

 

Die Rezensentin: Charlotte Kuschka