Über den Versuch, ein bisschen Utopie ins Jetzt zu holen

»Das Utopische […] ist politisch, weil es in unserer Hand liegt, was wir daraus – kollektiv – machen«, so eine der schlussfolgernden Aussagen auf der letzten Seite des Buches »Vermessung der Utopie«. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Zurück zur Zukunft« geht es genau darum: Wie gelangen wir zu einer sozialen, ökologischen und demokratischen Wirtschaft und Gesellschaft? Autor Raul Zelik skizziert anhand seiner Thesen ein Konzept.

Das Ost-Passage Theater ist gut besucht. Unter der gewölbten Decke mit dem bröckelnden Putz sitzen bis auf zwei Herren mit weißem Haar durchschnittlich Leute in den Zwanzig- oder Dreißigern, darunter erwartungsgemäß eine Menge Studenten. Einige davon haben Stift und Notizbuch gezückt, andere ein Bier in der Hand. Das Konzeptwerk Neue Ökonomie organisiert insgesamt fünf Abende zu »visionärer Politik und machbaren Strategien«, wobei Raul Zelik heute den Auftakt macht. In Paulo-Freire-Printshirt und Sneakers könnte er auch als ein Professor der entspannteren Art durchgehen. »Ich weiß nicht, ob ich eure Erwartungen erfüllen kann«, warnt der Autor das Publikum. 13 Thesen hat er vorbereitet – eine ambitionierte Zahl, wie sich später herausstellt.

Man merkt am zuweilen appellativen Charakter des Vortrags, dass Zelik nicht nur als Professor gearbeitet hat, sondern sich auch im Aktivismus engagiert. Auch der Anfang Mai verstorbene Koautor Elmar Altvater, Professor für politische Ökonomie und profilierter Kapitalismuskritiker, engagierte sich einst bei den Grünen, später bei der Linken und bei Attac. Das gemeinsame Buch besticht durch eine kreative und erstaunlich undogmatische Analyse der Gegenwart. Es ist ein schriftgewordener Dialog über die Grenzen des Kapitalismus und eine Suche nach Antworten in der Utopie, einem Niemandsland, was jedoch dazu diene »Alternativen aufzuzeigen«, so Zelik.

© Bertz + Fischer Verlag

Der Vortrag überzeugt durch eine Vielzahl an Perspektiven und Beispielen. Zelik greift spannende Aspekte heraus, erläutert Ansätze aus dem Akzelerationismus, der lateinamerikanischen Care-Ethik, und greift immer wieder den Gedanken auf, dass der Impuls aus der Gesellschaft selber kommen müsse. Die These des Homo oeconomicus betitelt Zelik als »Blödsinn«. Diese sei vielfach widerlegt worden, unter anderem in Experimenten, in denen bereits bei kleinen Kindern Mitgefühl und Solidarität nachgewiesen wurden. Allerdings seien diese Ausprägungen auch stark abhängig vom Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft – diesen müsse man stärken. Letztendlich müssten der Saudi-Araber und der US-Amerikaner, der Fensterputzer und der Geschäftsmann im dicken SUV, alle irgendwann einsehen, dass sie nicht in so weit voneinander entfernten Welten leben, wie sie immer glauben, so Zelik.

Es geht dem Autor nicht um einen radikalen Umbruch, soviel wird im Laufe des Abends deutlich. Alle Vorschläge klingen dann doch eher nach klebrig-zähen Prozessen und der Durchsetzung von kleinen Veränderungen, räumt er selber ein. Insofern richtete sich die anfängliche Warnung wohl an den ein oder anderen Zuschauer, der auf mehr revolutionäre und anarchistische Ideen gehofft hatte. Zeliks letzte Thesen fallen ein wenig kürzer aus, als ihn eine Zuschauerin bittet die Thesen deutlicher auszuformulieren, die Moderatorin aber gleichzeitig schon auf die vorangeschrittene Uhrzeit hinweist. Womöglich hätten eine Einschränkung auf weniger Aspekte der Struktur und der Ausführlichkeit der Thesen gutgetan.

Nach einer kurzen Pause ist eine Diskussionsrunde angedacht, wobei sich die Reihen mittlerweile ein wenig gelichtet haben. Es kommen viele interessierte aber auch kritische und sachkundige Rückmeldungen. Da die Meldungen in Blöcken abgearbeitet werden, kommt allerdings eher eine Fragerunde zustande. Leider greift Zelik wohl auch deshalb nicht mehr die interessante Frage von einem der Zuschauer auf: Was, wenn das grundsätzliche Hindernis für gesellschaftlichen Wandel die Gleichgültigkeit einer Vielzahl von Menschen ist? Es scheint als würde der Autor sich auf die großen Erzählungen berufen, um damit zuerst einmal aus ebendieser Gleichgültigkeit zu reißen. Aufgrund der strukturierten Analyse der komplexen Zusammenhänge und einer stärkeren Fokussierung auf ökonomische Aspekte kann man allerdings zusätzlich jedem Interessierten das Buch empfehlen, welches auch als Creative Commons für nicht-kommerzielle Zwecke freigeschaltet ist.

Beitragsbild: Raul Zelik spricht im Ost-Passage Theater. © Christopher Laumanns / Konzeptwerk Neue Ökonomie


Die Veranstaltung: Raul Zelik zur Vermessung der Utopie, Ost-Passage Theater, 24.5.2018, 19.30 Uhr

Das Buch: Raul Zelik, Elmar Altvater: Vermessung der Utopie – Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft. Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2015, 240 Seiten, 9,90 Euro, außerdem kostenlos online: https://www.raulzelik.net/images/rzdownload/utopie.pdf


 

Die Rezensentin: Hanna Ahrens