Eine Art 5D-Kino soll es werden – eine Reise mit allen Sinnen in die Geschichte von Mary Shelleys »Frankenstein«. Der Hypnose-Coach Dominic Memmel versetzt sein Publikum im Sowiewir in der Südvorstadt in hypnotische Trance – oder in Tiefschlaf?
»Dein Atem geht stetig auf und ab, wie ein Wind, wie ein Wind am Meer, oder eine tiefe Meereswelle, die auf und ab rollt, immer auf- und abrollt.« Meine Augen sind geschlossen. In meinen Ohren klingt die warme Stimme von Dominic Memmel, die in beruhigendem Tonfall den Raum erfüllt. Mein Körper wird schwerer und schwerer und drückt mich immer tiefer in die weiche Ledercouch. Dominic fährt fort: »Und wie euer Atem ist auch diese Welle immer da, eine Strömung, die eure Körper versorgt, mit Ruhe und Entspannung, und tiefer, tiefer Geborgenheit.«
Eine Stunde zuvor. Obwohl es bereits 17 Uhr ist, brennt die Sonne noch immer auf die Steinplatten der Karl-Liebknecht-Straße. Leicht verschwitzt springe ich von meinem Rad. Ich bin viel zu spät dran, in wenigen Minuten beginnt die Lesung »Hypnotic Frankenstein«im Sowiewir direkt neben der Löffelfamilie an der Feinkost. Also schnell das Fahrrad angeschlossen und die paar Metallstufen zum Eingang des Sowiewir hochgelaufen. Neben der Tür steht ein Typ Mitte dreißig, mit zerzaustem Sieben-Tage-Bart, die braunen Haare zu einem lockeren Dutt zusammengebunden. Er trägt ein blaues Shirt mit einer taubenfütternden Cartoon-Oma darauf, Jeansshorts und Flip-Flops. Offen lächelt er mich an und streckt mir seine Hand entgegen. »Ich bin Dominic, der Veranstalter dieser Lesung und der Hypnotiseur.«
Ich muss gestehen, dass ich mir den Hypnotiseur, der uns laut Ankündigung zunächst hypnotisieren und dann mithilfe einer szenischen Lesung in die Geschichte von Mary Shelleys »Frankenstein« versetzen soll, irgendwie anders vorgestellt habe. Vor meinem geistigen Auge sah ich vielmehr einen schmierigen Kerl mit angeklatschter Gel-Frisur und fiesem Ziegenbärtchen, in glattgebügeltem Anzug und ein goldenes Pendel schwingend, der mich mit geflüsterten Botschaften ablenkt, um mir unbemerkt mein Handy und mein Portemonnaie aus der Tasche zu zaubern. Falsch gedacht.
»Du bist leider bisher der einzige Gast«, sagt Dominic entschuldigend. Ich werfe einen kurzen Blick in die gemütliche, kleine Bar, in der die Lesung stattfinden soll. Die Wände des Sowiewir sind schwarz und dunkelrot gestrichen, hier und da wechselt sich in industrieller Ästhetik der Putz mit Fliesen und Backsteinen ab. Die gut ein Dutzend weißen Plastikstühle in der Mitte des Raums sind leer.
Wir bleiben in der Sonne stehen und quatschen ein bisschen. Mein erster Eindruck von Dominic bestätigt sich: Ein entspannter Kerl. Er hat als Regisseur im Laientheater gearbeitet und dabei eine Atemtechnik zur Entspannung entwickelt, besonders um unsichere DarstellerInnen vor Auftritten zu beruhigen. Erst später erfuhr er zufällig, dass diese Atemtechnik im Grunde Hypnose ist, erzählt er mir. Mittlerweile gibt er an der Uni Würzburg Seminare für Rhetorik und Sprechsicherheit für Lehramtsstudierende. Und ist Hypnose-Trainer: Er coacht Leute zur Selbsthypnose, versucht mithilfe von Hypnose Menschen das Rauchen abzugewöhnen oder Beziehungsprobleme zu lösen.
»Hypnose hat meiner Meinung nach nichts mit Esoterik oder Okkultismus zu tun«, erklärt er mir. Die pendelschwingenden Schmierlappen aus den Hypnose-Shows gäbe es zwar, eine Art »Gedankenkontrolle« sei aber nur bei sehr willigen ProbandInnen möglich. Während der Trance seien die Hypnotisierten empfänglich für Empfehlungen und Ratschläge, die nur, wenn sie ihnen als sinnvoll und richtig erscheinen, im Wach-Zustand umgesetzt werden. »Hypnose ist ein natürlicher Zustand, den wir alle kennen. Wenn man beim Autofahren in Gedanken versinkt, wegdriftet, aber trotzdem automatisiert fährt und sich plötzlich fragt, wo die letzten paar Kilometer geblieben sind. Oder wenn man am Elsterbecken sitzt und die Gedanken schweifen lässt, die Zeit verloren geht – auch diese Art von meditativer Trance ist eine Form von leichter Hypnose, die nur methodisch vertieft werden muss.«
Das Warten hat sich gelohnt, ein Gast kommt tatsächlich noch. Jetzt vollzählig verlassen wir unseren sonnigen Platz, gehen hinein ins Sowiewir und lassen den Lärm der Karli hinter der geschlossenen Tür zurück. Dominic setzt sich hinter einen kleinen Holztisch auf einen roten Plastikstuhl. Vor ihm liegen ein paar vollgekritzelte Zettel mit Notizen für den Vortrag und die Geschichte, daneben eine etwas zerfledderte Ausgabe von »Frankenstein«. Er zündet eine kleine Kerze in einem Glas an. Ich lasse mich in die schwarze, weiche Ledercouch am Rand fallen, nippe an meiner Mate und bin gespannt auf das, was mich jetzt erwartet.
»Unser Problem ist die Ratio, das logische Nachdenken«, beginnt Dominic seinen lockeren Vortrag über Hypnose. »Unsere Ratio ist eine Nussschale auf dem Ozean unseres Seins. Alles unter dieser Nussschale spricht nicht die Sprache der Logik. Kommunizieren können wir trotzdem damit – aber nur mit Bildsprache.«Eben jene Bildsprache sei extrem wichtig, wenn es um Hypnose geht. Es müssen nicht zwingen optische Bilder sein – die Hypnotisierenden könnten auch über Gefühle oder Gerüche gehen, um Bilder in den Köpfen zu erzeugen. Neben dieser plastischen Sprache spiele stetige Wiederholung eine Rolle. »Das Gute an Wiederholung ist, dass sie dir neben Konzentration auch Sicherheit gibt – du weißt ja immer, was passiert«, sagt er grinsend. Während er spricht, gestikuliert er, lacht zwischendurch ein wenig und blickt kein einziges Mal auf die Notizzettel vor ihm – er ist ein angenehmer Redner. »Mit Hypnose können wir gezielt nach innen, in uns hineinblicken. Im Gegensatz zu tiefem Schlaf – der ist zwar auch ein Blick nach innen, aber ungezielt. Während einer hypnotischen Trance können wir uns selbst mit allen Sinnen wahrnehmen.«
Nach diesem Vortrag bin ich noch gespannter als vorher, was uns gleich erwartet. Ich selbst habe bisher absolut keine Erfahrungen mit Hypnose gemacht und stehe dem Ganzen neugierig und aufgeschlossen, wenn auch etwas kritisch gegenüber. Dominic fordert uns auf, eine entspannte Position einzunehmen und uns auf unsere Atmung zu konzentrieren. Ich lasse mich noch tiefer in die weichen Polster sinken und lege einen Arm auf die Lehne. Was passiert jetzt? Packt Dominic doch noch ein goldenes Pendel aus? Verwandeln sich meine Pupillen in rotierende Spiralen, wie bei Mowgli in der Disney-Version des Dschungelbuchs, als er von der Schlange Kaa hypnotisiert wird?

Hier im Raum ist es fast völlig still. Das kontinuierliche Brummen des Kühlschranks hinter der Bar und die beruhigende, weiche Stimme von Dominic im Ohr schließe ich meine Augen. »Du spürst deinen Körper. Dein Körper nimmt Raum ein, ist schwer, hat ein Gewicht. Deine Muskeln können eine Pause machen, können tiefer sinken, schwerer werden, können loslassen, können einfach daliegen, während dein Atem ganz ruhig und entspannt, ruhig und entspannt geht.« Er macht eine Pause. »Wir möchten uns nun einer Reise widmen. Diese Reise ist lang geplant, eine Reise aufs Meer hinaus, mit einem Boot oder Schiff, das dir gehört.« Dominic beschreibt die Fahrt über den Ozean, weg vom Land, an dem alle Sorgen zurückbleiben, wie er sagt. Atemzug für Atemzug dem Horizont entgegen, mit der wohligen Tiefe des Meeres unter uns. Und er erwähnt den Logbuchschreiber, der immer dabei ist und alles notiert, was auf dieser Reise geschieht, damit wir es immer wieder abrufen können – auch nach unserer Reise.
Dominics Stimme zu lauschen ist ungemein entspannend. Dennoch frage ich mich nach minutenlanger Wiederholung der Beschreibungen von Meeresrauschen, Horizont und Salzluft, wann es jetzt mal los geht mit der Story um den ambitionierten Wissenschaftler Frankenstein, der in seiner ungeheuren Hybris ein menschliches Leben erschafft – aus Einzelteilen von Leichen – und dem seine Schöpfung, die »Kreatur«, letztendlich zum Verhängnis wird. Dominic erzählt nun von einem abgemagerten Mann, der auf einer Eisscholle festsitzt und von uns an Bord aufgenommen wird – Victor Frankenstein. Na also, jetzt sind wir in der Geschichte von Mary Shelley angekommen. Wie im Buch erzählt Victor Frankenstein seine Lebensgeschichte, und von den »großen Übeln«, die ihm widerfahren seien – alles vom Logbuchschreiber festgehalten, den Dominic immer wieder erwähnt. Er erzählt die Geschichte frei nach und liest nur wenige, kurze Passagen aus dem Roman vor. In lebendiger Sprache beschreibt Dominic, wie Viktor mit uns zusammen in den Gassen des malerischen Ingolstadt umherstreicht – auf der Suche nach Überresten menschlicher Körper, die er für seine Schöpfung verwenden kann: »Ihr nehmt die Toten mit euch, durch die Gassen von Ingolstadt. Einem Keller entgegen, ein Atelier, eine Werkstatt, wo zugleich medizinische Geräte aufgebaut sind. Etwas, das glänzt, das glimmt, das elektrifiziert – es gibt viel zu sehen in diesem Keller.« Ich werde dämmriger und dämmriger, mein Körper fühlt sich schwer an und drückt mich immer tiefer in das weiche Leder des Sofas.
»Dein Schiff kommt zurück ans Land, du steigst auf den Steg und kommst wieder zurück ans Ufer. Du öffnest deine Augen.«Ich schlage meine Augen auf – was war das jetzt bitte? Wo zur Hölle war das Monster in der Geschichte? Wo war die Erweckung des Körpers in einer düsteren Novembernacht, die Morde, die Bitte der Kreatur um die Erschaffung einer Partnerin, der Showdown im ewigen Eis, der Tod Frankensteins und die traurige Verabschiedung des Wesens vor seinem Suizid auf unserem Schiff? Und wie viel Zeit ist überhaupt vergangen? »Ungefähr eine halbe Stunde«, antwortet Dominic grinsend. »Du warst wohl in einer Tiefenhypnose.« Ich reibe mir skeptisch die Augen. »Na ja, ich war etwas müde und bin vielleicht einfach eingeschlafen?«»Das glaube ich nicht. Du hast auf meine Geschichte reagiert, hast zum Beispiel deine Arme enger um dich geschlungen, als ich dir gesagt habe, dass du dich wohl fühlst.«»Und als das Monster aufgetaucht ist, hast du ängstlich gestöhnt!«, bestätigt mein Sitznachbar.
Ich bin hin- und hergerissen. Wieso sonst bin ich zu mir gekommen, als Dominic mit der gleichen ruhigen Stimme seiner Geschichte sagte, ich solle aufwachen, wenn ich sonst nicht mal meinen schrill und aggressiv piepsenden Wecker höre. Mein Sitznachbar hat im Gegensatz zu mir die ganze Geschichte mitbekommen. »Mein Körper war auf einmal unheimlich schwer, ich konnte gar nicht mehr aufstehen und wurde ganz tief in das Polster gedrückt. Aber die Geschichte war mir nicht so wichtig, ich war eher bei mir selbst«, erzählt er, ebenfalls etwas verwundert. »Und als ich dem Monster in die gelben Augen geschaut habe, hatte ich kurz Angst, das sei ein Spiegel und ich hätte auch gelbe Augen – und wäre selbst das Monster.«
Bei ihm scheint die Hypnose funktioniert zu haben. Bei mir selbst zweifle ich nach wie vor. Auch wenn mein Aufwachen tatsächlich genau zu dem Zeitpunkt war, an dem Dominic es mir gesagt hat, so habe ich doch nicht sehr viel vom Kern der Geschichte mitbekommen. Und an die Aufzeichnungen des Logbuchs, das in Dominics Erzählung permanent präsent war, kann ich mich ebenfalls nicht erinnern. Fraglich also, ob mich Dominics Worte tatsächlich in Tiefenhypnose versetzten, oder ob mich seine sanfte Stimme in Verbindung mit dem unendlich weichen, bequemen Sofa vielmehr in den Schlaf gewiegt hat. Den vorher angekündigten »Blick in die Tiefen meines Seins« habe ich nicht feststellen können – zumindest nicht bewusst. Stattdessen erinnerte mich die Lesung eher an eine Traumreise, wie ich sie noch aus meiner Schulzeit von der letzten Stunde vor den Ferien kenne, die mich letztendlich in einen friedlichen Schlaf versetzte, statt in eine tiefe hypnotische Trance. Und trotzdem: Dieses Selbstexperiment hat mein Interesse an Hypnose geweckt und ich habe Lust, einer solchen Erfahrung nochmal eine Chance zu geben – vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal mit dem »Blick nach innen«.
Beitragsbild: Der Hypnotiseur Dominic Memmel verschafft seinem Publikum einen kurzen Einblick in die Welt der Hypnose. © Lea Schröder
Die Veranstaltung:Der Hypnose-Coach Dominic Memmel stellt die theoretischen Grundlagen von Hypnose vor und versucht danach sein in hypnotische Trance versetztes Publikum mithilfe einer szenischen Lesung von Sequenzen aus Mary Shelleys „Frankenstein“ in die Geschichte zu ziehen, Sowiewir, 11.09.2018, 17 Uhr.
Das Buch: Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Aus dem Englischen von Ursula Grawe. Reclam Taschenbuch, Ditzingen 2018, 344 Seiten, 9,95 Euro
Die Rezensentin: Lea Schröder
Vielen Dank für die schöne Rezension. Ohne dass Du Dir da sicher bist, hast Du es sehr gut beschrieben, wie sich eine Hypnose anfühlt. Bzw. anfühlen kann, da es ja doch sehr individuell ist.