Bei der Lesedüne von Julius Fischer, Sebastian Lehmann, Marc-Uwe Kling und Maik Martschinkowsky tragen sie und ein Gast jeweils eigene Texte im SO36 in Berlin vor.
Ich biege um die Ecke in die Oranienstraße im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Das große Schild mit der Aufschrift SO36 kann ich bereits erkennen. Beim Näherkommen sehe ich Plakate, die darauf hinweisen, dass die Location sonst ein Club und eine Rollschuhdisko ist. Nach dem Einlass kommt ein langer Flur, der komplett mit Stickern beklebt ist, auf mich zu. Am Ende kann ich helles rotes Licht erkennen. Der Raum ist schon eine halbe Stunde vor Beginn sehr gut gefüllt: Circa 300 Menschen sitzen auf Bänken und auf dem Boden und unterhalten sich lautstark über das Uni-Leben, Politik oder den heutigen Abend.

Um 20 Uhr geht das Licht aus und plötzlich wird es still. Die Vortragenden der Lesedüne betreten die Bühne und werden von Boris am Bass auf jeden Schritt hin musikalisch begleitet. Zu Beginn greift Julius Fischer nach dem Mikrofon, um seine Co-Mitglieder und den heutigen Gast Jason Bartsch vorzustellen. In einer zuvor abgesprochenen Reihenfolge werden die Fünf aus ihren alten und neuen Texten vorlesen. Als Erster ist Sebastian Lehmann an der Reihe. Er startet mit Transkripten von drei Telefonaten zwischen seinen Eltern und ihm. Äußerst überzeugend und amüsant sind vor allem die Sprünge zwischen den unterschiedlichen Stimmlagen seiner Mutter, seines Vaters und ihm. Als zweites tritt Maik Martschinkowsky vor das Publikum. Er beginnt seinen Vortrag mit Klingelgeräuschen eines Telefons. Es folgt die Beschreibung von einem der überaus beliebten Umfrage-Anrufe über die politische Einstellung der Zuhörer. Zu Beginn versucht Maik Martschinkowsky, hilfreiche Auskunft zu geben, doch am Ende merkt er, dass er sich mit unnötig komplizierten oder gar ausbleibenden Antworten einen Spaß mit der Dame am anderen Ende der Leitung machen kann. Auch das Publikum im SO36 hat dabei gut lachen.
Jason Bartsch, wie hätte es an diesem Abend anders sein können, trägt ebenfalls einen Text über das Telefonieren vor. Doch dieser ist anders. Als er von seinen Eltern gefragt wird, was er von den neuen Ministern halte, überschlagen sich seine Gedanken. Er gerät in einen ekstatischen Sprachfluss, der von Emotionen und Überzeugung geprägt ist. Als er bei der Aussage Seehofers, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, ankommt, endet er seinen inneren Monolog mit den Worten: »Weißt du was nicht zu Deutschland gehört? … genau, Bayern«, während das Publikum sich kaum halten kann vor Lachen.
Als nächstes stellt sich Marc-Uwe Kling vor den gefüllten Saal. Er liest aus seinem neuen Buch »QualityLand« vor. Das Känguru, das bereits in den Känguru-Chroniken vorkam, bekommt auch darin eine Nebenrolle. Marc-Uwe Kling berichtet über Liebesprobleme und komische Therapiestunden, wobei sein Weggefährte immer einen lustigen und gleichzeitig demütigenden Spruch parat hat.

Julius Fischer betritt noch vor der Pause die Bühne und liest eine Art Werbetext über Dresden vor. In diesem Beitrag unterhält er sich mit einer bekannten Figur aus seinem Buch »Ich hasse Menschen: Eine Abschweifung«, dem sächsischen Dynamo-Ultra Enrico. Wie präzise Julius den sächsischen Dialekt abliefert, ist kaum zu glauben und sehr lustig anzuhören. Nach der Pause und jeweils zwischen den Beiträgen der anderen Vortragenden gibt es eine musikalische Abwechslung: Jason Bartsch trägt selbstgeschriebene Lieder vor. Mal singt er über die Attraktivität von Fahrrädern und mal aus der Perspektive einer Frau im Mittelalter über die Pest und Hinrichtungen. Alle seine Lieder begleitet er mit einer Loop-Station und schrillen Tanzeinlagen.
Nach mehr als zwei Stunden Humor, ernster Themen und Musik neigt sich die Veranstaltung langsam dem Ende zu. Der Abend bei der Lesedüne hat mir nicht nur gezeigt, wie vielseitig und unterhaltsam Telefonate sein können, sondern auch, wie wichtig es ist, in Zeiten von politscher Verzweiflung mit einer großen Portion Systemkritik einfach einmal zu lachen. Wer dabei ein Gefühl von Verbundenheit unter Gästen, die sich sonst nicht kennen, schätzt, dem kann ich nur empfehlen, dem SO36 einen Besuch abzustatten.
Beitragsbild: Julius Fischer, der momentan in Leipzig wohnt, präsentiert seinen sächsischen Dialekt. © Pia Ebeling
Die Veranstaltung:Lesedüne, moderiert von Julius Fischer, Mitglieder sind außerdem Sebastian Lehmann, Marc-Uwe Kling und Maik Martschinkowsky, zu Gast Jason Bartsch, SO36 in Berlin, 10.09.2018, 20 Uhr, die Webseite: http://leseduene.blogspot.com
Die Rezensentin: Pia Ebeling