100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stellt Daniel Schönpflug im Haus des Buches sein Buch »Kometenjahre« über das Schicksalsjahr 1918 vor. Die Lesung findet im Rahmen der Reihe »Die Zukunft war anders« statt.
Als sich die Zuhörer im stilvoll eingerichteten Café des Literaturhauses einfinden, ahnen sie noch nicht, dass sie soeben eine Zeitmaschine betreten haben. Unterstützt von seinem Kollegen Alexander Gallus entführt der Autor und Historiker Daniel Schönpflug das Publikum ins Jahr 1918.

Mithilfe der persönlichen Aufzeichnungen von 22 Zeitzeugen erschafft Schönpflug ein Bild Europas nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, wobei er bewusst auf analytische Passagen verzichtet. Um die Geschichte nicht »im Rückspiegel zu betrachten«, überlässt er seinen Protagonisten das Wort, auch wenn diese es mit der Wahrheit nicht immer allzu genau nehmen. Da versteigt sich zum Beispiel der selbsterklärte Pazifist Harry S. Truman in düstere Gewaltfantasien und ein späterer Nationalsozialist deutet seine Vergangenheit zur tragischen Heldengeschichte um. Erst ein Nachwort des Autors enthüllt die Selbstinszenierungen.
Als Schönpflug die Lesebrille aufsetzt und mit warmer, harmonischer Stimme zu Lesen beginnt, erscheinen einem so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Virginia Woolf und Ho Chi Minh plötzlich lebensnah und unglaublich jung, nahezu verletzlich in ihren überlebensgroßen Schwarz-Weiß-Porträts, die im Hintergrund auf einer Leinwand eingeblendet werden.
Dennoch stellt sich nicht nur Sympathie mit den Handlungsträgern ein. Auch Menschen wie Rudolf Höß, der spätere Kommandant von Auschwitz, sind Teil dieser Aufbruchsjahre, als sich das Gewaltpotenzial bestimmter Utopien langsam enthüllt. Die Hoffnungen und Visionen der Menschen im Jahr 1918 werden plötzlich greifbar, doch das Zerbrechen der alten Ordnung bringt auch Gefahren mit sich. Schönpflug vergleicht seine Figuren mit Seiltänzern, die auf einem schmalen Draht zwischen Himmel und Erde wandeln, elegant und gleichzeitig fragil, immer einen Schritt vom Abgrund entfernt.

»Geschichte wiederholt sich nicht«, betonen sowohl Gallus als auch Schönpflug, aber hin und wieder meint man, das Jahr 2018 im Jahr 1918 wiederzuerkennen. Die Ernüchterung Käthe Kollwitz‘ nach ihrer ersten Wahl wird vom Publikum mit Lachen quittiert. Auch der Hang zur Selbstdarstellung Trumans, der nach dem mäßigen Erfolg seines Unternehmens schließlich in die Politik einsteigt, kommt einem vertraut vor. »So wird man amerikanischer Präsident«, kommentiert Gallus trocken, begleitet vom Hüsteln und leisen Lachen der Zuhörerschaft. Nach Episoden über Rassismus und Antisemitismus, welche das Leben der Protagonisten ebenfalls prägen, verstummt das Lachen jedoch schnell wieder. Die Vergangenheit scheint plötzlich unbequem nah.
Schönpflugs »Kometenjahre« ist eine Revolution im Kleinen, ein Aufbäumen gegen die festgefahrenen Konventionen des historischen Erzählens und der damit einhergehenden Tendenz, alles analysieren und einordnen zu wollen. »Die meisten Bücher von Historikern will niemand lesen, die wollen noch nicht mal Historiker lesen«, erklärt der Autor zum Amüsement der Zuhörer. Nach mehreren erfolgreichen Publikationen erlaube er sich nun ein Experiment und gestehe seinen Lesern die Mündigkeit zu, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen sowie selbst zwischen Wahrheit und Fiktion unterscheiden zu können.
Als die Lesung ihr Ende findet, verlassen die Besucher die Zeitmaschine nach langem Applaus wieder. Vertraut und gleichzeitig mahnend strahlt das »Kometenjahr« 1918 in die Gegenwart. Der Drahtseilakt des Autors ist voll und ganz gelungen.
Beitragsbild: Daniel Schönpflug (links) erklärt die Metapher vom Seiltänzer anhand eines Gemäldes von Paul Klee. © Milena Wein
Die Veranstaltung: Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch, Daniel Schönpflug in Lesung und Gespräch mit Alexander Gallus, Haus des Buches Leipzig, 11.1.2018, 19.30 Uhr
Das Buch: Daniel Schönpflug: Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch. S. Fischer, Frankfurt 2017, 320 Seiten, 20 Euro, E-Book 16,99 Euro
Rezensiert von: Milena Wein