Gespräch mit zu vielen Fragezeichen

Der Historiker Jürgen Herres nahm bei seiner Buchvorstellung im Leipziger Ariowitsch-Haus eine souveräne Haltung ein, wo Tratsch überhandnehmen wollte.

Eigentlich sollte es ein Abend zu Karl Marx und Friedrich Engels werden, bei dem der Journalist, Roman- und Sachbuchautor Dietmar Dath und der Historiker Jürgen Herres ihre neusten Publikationen vorstellen würden: Ersterer sein 100-seitiges Büchlein mit dem bescheidenen Titel »Karl Marx«, Letzterer seinen neusten Wälzer »Marx und Engels. Porträt einer intellektuellen Freundschaft«. Da Dath kurzfristig erkrankt war, fand sich Herres jedoch allein neben dem Moderator Michael Sahr wieder. Dem Publikum schien Herres wenig bekannt, wie das fehlende Klatschen verriet. Zu Unrecht, ist er doch Mitarbeiter im Akademievorhaben der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

© Reclam

Eigentlich sollte es also ein Abend zu Marx und Engels werden – und irgendwie war es das und war es das auch nicht. Der langjährige ZDF-Redakteur Sahr hatte sich in seiner Position als Moderator anscheinend vorgenommen, besonders abseitige Fragen an den Fachmann Herres zu stellen: Wer von beiden die sauberere, wer die unleserlichere Handschrift hatte, welche Partei sie heute wohl wählen würden oder wie man die Privatperson Marx einem Fünfzehnjährigen im 21. Jahrhundert beschreiben könnte. Anfänglich noch als Kniff zum Gesprächseinstieg gewertet, stellte sich allmählich der Eindruck ein, dass die Moderation einen potenziell gehaltvollen Austausch ein paar verhaltenen Lachern zu opfern bereit war.

Der Autor versuchte merklich, den Tratschallüren Sahrs noch etwas Inhalt unterzumogeln. So ergab sich auf entsprechende Nachfrage des Moderators ein längeres Sinnieren über Körper- und Schuhgrößen von Marx und Engels, dem Herres mit einigen interessanten Informationen über die Denkmalpolitik in DDR und UdSSR begegnen konnte. Die Bronzefiguren am Marx-Engels-Forum in Berlin-Mitte zeigen bekanntlich Marx sitzend und Engels stehend. Jürgen Herres erklärte, dass sich der Bildhauer Ludwig Engelhardt damals mit dem Problem konfrontiert sah, dass Marx kleiner war als Engels. Das entsprach auf symbolischer Ebene nicht dem ideologischen Verständnis des Sowjetmarxismus, in dem beide als eigentlich eine Person begriffen wurden.

Jürgen Herres. © Helmut Thewalt

Diesem Problem des Marxismus im 20. Jahrhundert widmet sich Herres’ Buch, in dem das intellektuelle Verhältnis von Marx und Engels im Fokus steht. Es geht also nicht um Gossip, sondern um den beachtenswerten Versuch, die Marxʼschen und Engelsʼschen Theorien unter ihrer Verkitschung herauszugraben und noch einmal neu zu lesen.

Herres nahm sich zur Veranschaulichung das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, welches Marx im ersten Band von »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie« entwirft. Dieses besage grob, so Herres, dass mit dem vermehrten Einsatz von Maschinen weniger Arbeit vonnöten würde, was schließlich zu Wertabfall und weniger Profit führe. Im Rahmen der Forschungsarbeit an der MEGA stieß man auf Notizen, in denen Marx dieses Gesetz immer und immer wieder durchgerechnet hatte, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Marx konnte – 1883 verstorben – sein Werk nicht mehr vollenden; stattdessen stellte Engels Band 2 und 3 von »Das Kapital« anhand von Manuskripten zusammen. Im dritten Band findet man nun jenes Gesetz als erwiesen, wo Marx ein endgültiger Beweis fehlte.

Herres’ Buch rekonstruiert somit auch die Umstände der Entstehung der Marx-Engels-Werke, wie man sie heute kennt. Demnach dürfte sich ein Blick in sein Porträt von »Marx und Engels« mehr lohnen, als es im Gespräch mit Michael Sahr zur Geltung kommen konnte.

Beitragsbild: Autor Jürgen Herres und Moderator Michael Sahr © Felix Hürzli-Donald


Die Veranstaltung: Der Historiker Jürgen Herres stellte im Leipziger Ariowitsch-Haus seine neuste Publikation zu Karl Marx und Friedrich Engels vor. 17.3.2018, 20 Uhr

Das Buch: Jürgen Herres: Marx und Engels. Porträt einer intellektuellen Freundschaft. Reclam-Verlag Ditzingen 2018, 314 Seiten, 28 Euro

 


 

 

Die Rezensentin: Lilli Helmbold