Entwicklung als Kringel

Ann Cotten liest aus Lyophilia im KV – Verein für zeitgenössische Kunst Leipzig

Ausgebaute Autoscheinwerfer, getrennt von ihren Körpern, werfen wandernde Lichter durch den großen Raum, als suchten sie etwas. Elektronische Musik zuckt aus den Boxen. Die Stühle sind auf einen einfachen Tisch aus Holz ausgerichtet, der mit seiner organischen Vergangenheit unter den Einrichtungs- und Kunstgegenständen ein Fremdkörper ist. Darauf steht ein MacBook, der Platz dahinter ist noch leer. Das Publikum sieht aus, als wäre es für eine Vernissage gekommen, die älteren sind jung geblieben, die Kunstmenschen tragen einen individuellen Einheitslook, sind ausnahmslos hip und attraktiv. Manche von ihnen werden später die Augen schließen, um sich besser konzentrieren zu können.

Ann Cotten am Holztisch © Leon Tiemeier

Niemand ist aus Zufall hergekommen, es ist keine Veranstaltung, zu der man sich verirrt. Es erfordert eine hohe Rechenleistung, die kurzen Einblicke in die Gedankenwelten Ann Cottens zu verarbeiten, immer wieder kommt es zu Glitches, Störungen im System des Verstehens. Der Mensch und auch die Technik, die er schuf, sind nicht fehlerfrei. Das wird schon klar, noch bevor die Autorin zu lesen begonnen hat. Neben kleinen Schwierigkeiten mit den Mikros werden wir vom Moderator informiert, dass das Buch leider nicht rechtzeitig fertig geworden ist. Cotten fängt also an, aber der Schall ihrer verstärkten Stimme dringt anfangs nicht in die letzten Reihen.
Dann versteht man und versteht auch wieder nicht: Die Menschheitsgeschichte als die Sprache von Außerirdischen, verwirrend und philosophisch. Die Autorin steht beim Lesen.

Ann Cotton, stehend © Leon Tiemeyer

Jetzt setzt sie sich, um »die nächtliche Recherchearbeit zu simulieren«, die für ihr »WIKILEAKS-Tagebuch« von Nöten war. Im weiteren Verlauf der Lesung geht es um Automaten auf einem Siedlungsasteroiden, die einen beim Erfüllen von Aufgaben filmen und zur Belohnung ein paar Glücklichmacher auswerfen (vermutlich zur Erzeugung eines Fernsehprogramms auf der Erde), um die Probleme des öffentlichen Weltraumverkehrs, der Passagiere transportiert, die in der Unendlichkeit des Alls meist ziellos sind und um Vieles andere, das sich schwerlich durch die Beschreibung von Handlungsabläufen vermitteln lässt.

Buchcover (463 Seiten) © Verlag Suhrkamp

Die Themen sind weit gefächert und werden deutlicher in dem Gespräch, welches Cotten mit ihrer Lektorin Martina Wunderer führt. Als »Science Fiction auf Hegelbasis« hatte sie ihr Buch angekündigt, doch von der Ansicht, dass die Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist, geht sie eher nicht aus. Vielmehr sind es die »Momente, wo sich der unendliche Verschleiß und die unendliche Verbesserung die Waage halten«, die sie interessieren. Die Antworten, die Cotten gibt, sind assoziativ, sie stellen Verbindungen zwischen H.G. Wells Zeitmaschine und dem modernen Japan her oder kreisen um die »Fatalität von Wortspielen«. Einmal, beim Versuch, die Proportion der Musik mit Raum und Zeit zusammenzubringen, verlaufen sie ins Leere, doch interessant sind sie auch dann.
Das ist vielleicht das Adjektiv, das den Abend am besten beschreibt. Alles kommt einem zwar ein bisschen bekannt vor, wenn sich Elemente von Huxley, Dick, Wells und wahrscheinlich noch einigen anderen Autoren finden lassen und dennoch sind die surrealen Welten und die artifizielle Sprache in der sie konstruiert werden überaus originell. Bleibt abzuwarten, was die Zukunft bringt, bis dahin haben wir das Erzählen von Geschichten, »die erste Erfindung der Zeitreise«.

Beitragsbild: Ann Cotten (rechts mitte) und Martina Wunderer (ganz rechts) © Leon Tiemeier


Die Veranstaltung: Ann Cotten liest aus Lyophilia, Moderation: Martina Wunderer, KV — Verein für Zeitgenössische Kunst Leipzig e.V. , 21.3.2019, 19.30 Uhr


Das Buch: Ann Cotten: Lyophilia. Berlin 2019, 463 Seiten, 24,00 Euro


Der Rezensent: Leon Tiemeier