Sven Regener sorgt mit »Wiener Straße« für ein Wiedersehen mit den Figuren seines Debütromans.
Der Abend ist ein Potpourri der Dialekte. Theoretisch zumindest – denn da es Sven Regener ist, der da oben steht und aus seinem neuen Roman liest, dominiert in der Praxis ganz eindeutig die norddeutsche Schnauze. Dabei wird im Buch berlinert, als gäbe es kein Morgen. Einer mit schwäbischem Einschlag, einige kommen eigentlich aus Österreich – nur Frank Lehmann stammt, wie der Autor selbst, aus Bremen-Ost. Und die meisten Gäste unterhalten sich auf Sächsisch über ihre Eindrücke.

Die Lichter gehen aus, der Abend ist eröffnet, die Hauptperson der heutigen Lesung schlendert zur Bühne, bedankt sich artig für den munteren, erwartungsfreudigen Applaus und kommt direkt zum Wesentlichen: »Ich sag jetzt mal, wie ich mir das heute so vorstelle: ich lese, lese, lese – und dann ist rum.« Der souveräne erste Lacher des Abends. Und Schelm, der er offensichtlich ist, fügt Regener hinzu, er stelle sich das nicht nur so vor, genau so würde der Abend auch tatsächlich ablaufen. Dann beginnt er zu lesen, und zwar »am Anfang, zum Reinkommen«.
Es läuft so, wie er sich das vorgestellt hat. Zwar keine Wasserglas-, aber eine Bierflaschenlesung. Bewusst simpel und ungeschmückt steht da ein Autor und liest Passagen aus einem Buch vor. Plus viele Lacher aus dem Publikum. Das bekommt beispielhafte Auszüge präsentiert aus dem Berliner achtziger-Jahre-Figurenkonglomerat, das wir aus Sven Regeners Debütroman »Herr Lehmann« kennen. Da ist Erwin Kächele, der eine Kneipe betreibt, das Café Einfall. Und wären die Protagonisten damit ausgeschöpft, wäre die Geschichte auch schon zu Ende erzählt. Es wäre eine kurze, unspektakuläre Lesung zu einem ziemlich belanglosen Roman geworden, vermutlich eine ohne Zuschauer. Doch zum Glück (des Lesers) ist Erwin nicht alleine. Da ist seine Nichte, Chrissie, der er einen Job verschaffen soll. Da ist Frank Lehmann, der für ihn putzt und fegt und wischt. Da sind die Künstler Karl Schmidt und H. R. Ledigt, die ihm zwar mit Kettensägen, verbrannten Kuchen und ganz allgemein ihrer anarchistischen Ader das Leben schwermachen, aber – es ist typisch für den Roman, dass das mehr als einmal erwähnt wird – Erwin Kächele hat nun mal ein Herz für Künstler. Dazu kommen Hausbesetzer, Kneipengäste, ein Fernsehteam, Chrissies Mutter, ein Künstlerkollektiv namens ArschArt, ein nerviger Nachbar. Und scheinbar wollen sie alle einen Job in seiner Kneipe. Dabei ist seine Frau schwanger, und Erwin hätte gerne mehr Zeit, sich darum zu kümmern. Die Bedingungen sind zwar nicht optimal für einen Kneipenbesitzer, für den Leser allerdings könnten sie besser nicht sein.
Sven Regener liest, liest, liest, und das Publikum lacht, lacht, lacht, über die verschrobene Art der Berliner, über ihre skurrilen Gedankengänge, ihren Sarkasmus, der immer knapp am Zynismus vorbeischrammt, manchmal vielleicht über die Vortragsweise. Die ist charakteristisch: Sven Regener poltert die Dialoge herunter, macht mit den Armen Schwimmbewegungen und klingt dabei ein wenig, als hätte er dem Café Einfall erst kürzlich einen längeren Besuch abgestattet. Die Protagonisten haben immer mal wieder geistreiche Einfälle, und nachdem sie feststellen, wie geistreich ihr Einfall eben war, denken sie sich: Wenn man sich das bloß merken könnte.
»Eine Kneipe ist nicht David Bowie«, stellt Erwin Kächele zum Beispiel irgendwann fest. Damit meint er: Eine Kneipe kann man nicht neu erfinden, da kann man sie auch gleich dichtmachen. Ähnlich stur zeigt sich Regener, was die Vortragsweise angeht – viel Variation bekommt man nicht geboten. Diese laute, flapsige Art kann auf Dauer anstrengend sein. Sie erinnert an den Betrunkenen in der Kneipe, der einfach nicht aufhören will zu reden. Zum Glück passt das zur Szenerie. Und zum Glück weiß er inhaltlich ein wenig mehr und formal weitaus unterhaltsamer zu erzählen als die meisten Betrunkenen. Das Publikum hat er sowieso auf seiner Seite: selbst ironisch-feixend vorgetragene Namen wie H. R. Ledigt oder P. Immel werden glucksend goutiert, Regener hat die Zuhörerschaft in der Hand. Und er behält sie dort, wo sie sich wohlfühlen.

Die Figuren haben alle etwas Pubertäres in ihrer Launenhaftigkeit, verbunden mit einer gewissen Lethargie. Alle sind irgendwie dünnhäutig, alle zugleich ziemlich schlagfertig, unbeholfen und ambitioniert, alle sind genervt von allen anderen, freuen sich über ihre eigenen kleinen Erfolge und geistreichen Einfälle. »Ich bin nicht mehr derselbe, aber ich bin es vielleicht auch nie gewesen.« Beeindrucktes Raunen im Saal. Zwischen den rotzigen Berliner Dialogen verstecken sich so einige erzählerische Perlen. Zur unterhaltsamen, vertrauten Grundstimmung des mittlerweile fünften Romans, den der Element Of Crime-Sänger veröffentlicht hat, trägt die Tatsache bei, dass gewisse Bonmots und Sprüche immer wieder auftauchen, aus verschiedensten Mündern und Anlässen. »Man redet über Anwesende nicht in der dritten Person«, lautet eine dieser Weisheiten. Sven Regener tut es trotzdem. So authentisch sind seine Protagonisten, dass man das Gefühl hat, sie stehen die ganze Zeit um ihn herum und resümieren gemeinsam ihre Marotten und Eigentümlichkeiten.
Regener ist mit »Wiener Straße« ein angenehm kurzweiliger Roman gelungen. Er lohnt sich für alle, die von »Herr Lehmann« noch nicht genug haben. Die Lesung wird man auch nicht bereuen, obwohl der Charme mehr oder weniger verpufft, wenn man das Buch bereits gelesen hat. Man muss sich demnach auch nicht allzu sehr ärgern, wenn man sie verpasst hat. Das ist keine unterschwellig giftige Bemerkung – dit is halt nu ma so, sa’ck ma.
Beitragsbild: Signierstunde. Sven Regener nimmt sich Zeit für die Gäste. © Jonas Galm
Die Veranstaltung: Sven Regener: Wiener Straße – Lesung Leipzig, Haus Leipzig, 21.11.2017, 20 Uhr
Das Buch: Sven Regener: Wiener Straße. Berlin 2017, 295 Seiten, 22 Euro, E-Book 18,99 Euro
Der Rezensent: Jonas Galm