Stephan Orth stellt in der Stadtbibliothek Leipzig sein neuestes Buch »Couchsurfing in Russland« vor.
»Светит незнакомая звезда« (auf Deutsch: »Leuchtet uns ein unbekannter Stern«) klingt es aus den Lautsprechern und ein Gefühl der Fremde und der Neugier kommt bei mir auf. Die Lesung beginnt mit einem Video. Stephan Orth zeigt zu dem Lied »Nadzieja« von Anna German Bilder seiner Russlandreise. Erste Eindrücke können gewonnen werden und ich tauche aus Leipzig in eine andere Welt ab. Das Fernweh, das ich allen Besuchern schon beim Betreten des Lesungssaals angemerkt habe, verstärkt sich.

Die nächsten eineinhalb Stunden werden keine normale Lesung, auch auf Seiten des Verlages ist das Ganze eher als Multimedia-Vortrag angekündigt. Ich bekomme häufig das Gefühl, dass auch der Autor nicht wirklich weiß, ob er hier sein Buch promotet oder einen Grundsatzvortrag über Russland hält.
Geschickt strukturiert Stephan Orth die Lesung, genau wie sein Buch, anhand des Reiseverlaufs. Nach dem kurzen Einstieg mit Bildern von Gulliver Theis beginnt er mit dem ersten Kapitel. Er erklärt die grundlegende Idee von Couchsurfing und erzählt von ersten Erfahrungen in Deutschland. Auch spricht er über den Beginn seiner Recherchezeit sowie von Google-Ergebnissen, die klären sollten, was Russland ist – laut Google-Anfragen: ein schönes Land, an allem Schuld, pleite und gar nicht groß – und wie Russen eigentlich sind. Aber diese Berichte genügten Orth nicht. Er wollte echte Menschen kennenlernen, die wie du und ich in Russland leben. Keine großen Politiker, keine Gegner von allem und nichts, keine großen Sportler. Sondern Leute, die sonst nicht die üblichen Interviewpartner sind. Seine Erlebnisse schrieb er nieder. Das so entstandene Buch sieht er als Experiment.

Was im Buch immer etwas gestellt wirkt, ergibt in der Lesung plötzlich Sinn. Etwa das Quiz im Buch, ob der Leser Russe oder nicht Russe sei. Und auch normale Dialoge haben eine andere Wirkung, wenn ich sie von Stephan Orth höre. Screenshots aus seinen WhatsApp-Gesprächen mit den Gastgebern geben mir das Gefühl, selber dabei gewesen zu sein und alle Emotionen in genau diesem Moment nachempfinden zu können. Die Bilder unterstreichen den Text und die Lesung verwandelt sich von einem Multimedia-Vortrag in eine interaktive Veranstaltung, bei der ich gefordert bin mitzudenken, lachen kann und mich die Reiselust packt. Während des Vortrags lerne ich Alex kennen, einen Anhänger der Wissarion-Sekte. Außerdem Minna aus Finnland, eine Doktorandin in Sibirien sowie Nadja, die Sportwagen liebt und mit Stephan Orth durch den Altai gefahren ist. Diese und viele andere Menschen geben Russland ein Gesicht und machen die Fremde ein bisschen weniger fremd.
Nachdem wir einmal die Route von Moskau nach Wladiwostok in Abschnitten bereist haben, bleibt bei mir vor allem ein Satz hängen: »Ich glaube, wenn mehr Leute auf der Welt wüssten, dass Russen ›Pfannkuchen!‹ rufen, wenn ihnen etwas gegen den Strich geht, würden sie dieses Land geopolitisch nur noch als halb so bedrohlich empfinden.«
Im Gespräch mit dem Autor finden viele Zuhörer lobende Worte, aber mir wird auch immer klarer, dass nur wenige Hörer wirklich das Buch gelesen haben. Es ist eben doch ein Reisevortrag mit Buch gewesen. Aber vielleicht ist das gar nicht schlimm, weil auch das Buch eine Art Reiseführer ist.
Beitragsbild: Stephan Orth bei der Lesung seines Buches »Couchsurfing in Russland«. © Friederike Graupner
Die Veranstaltung: Stephan Orth liest aus seinem Buch Couchsurfing in Russland, Stadtbibliothek Leipzig, 23.11.2017, 19 Uhr
Das Buch: Stephan Orth: Couchsurfing in Russland. Piper Verlag GmbH, München/ Berlin 2017, 250 Seiten, 16,99 Euro, E-Book 14,99 Euro
Die Rezensentin: Friederike Graupner