Ein füllender Abend und eine gute Mischung

Wie erreicht man, trotz Covid-19, ein ganzes Publikum? Die Antwort: Eine einladende Location, fünf Autor*innen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und eine gute Mischung aus einer Veranstaltung mit physisch präsentem Publikum und einem Live-Stream.

© Schöffling & Co.

Die Rede ist von „Die Unabhängigen“, einem Forum der Kurt Wolff Stiftung. Die Moderatorin des Abends Rebecca Maria Salentin lud, in drei Etappen, fünf Autor*innen mit den unterschiedlichsten Themen ein. Neben einem anwesenden Publikum, welches mit Abstand und Masken den Abend vor Ort genießen konnten, zeigte der Lindenfels Westflügel aus Leipzig einen YouTube-Livestream.

© Orlanda Verlag GmbH

Nach einer, zum Mitfühlen anregenden Vorstellung von Lena Müller und ihrem Buch „Restlöcher“ befand sich die Moderatorin zwischen Anselm Oelze auf der linken und Florence Brokowski-Shekete auf der rechten Seite, das Thema: Machtvoll. Links ein Autor, mit seiner persönlich-politischen Reportage über das Flüchtlingslager Moria: „Die Grenzen des Glücks. Eine Reise an den Rand Europas.“ und rechts, die erste schwarze Schulleiterin in Deutschland und ihre Lebensgeschichte einer Schwarzen Frau in einer weißen Gesellschaft: „Mist, die versteht mich ja! Aus dem Leben einer Schwarzen Deutschen“.

Anselm Oelze © Iona Dutz

Rebecca Salentin wendet sich zunächst an Lehrerin, Schulleiterin und Schulrätin Frau Brokowski-Shekete, die als Kind nigerianischer Eltern in Deutschland geboren und nur wenige Zeit später von einer Pflegefamilie in die nächste gereicht wurde, damit ihre Eltern studieren konnten, bis sie mit etwa zwei Jahren ihren Platz in Buxtehude fand. Anfänglich wollte sie mit ihrer Geschichte nicht an die Öffentlichkeit treten, aus Angst, man könne ihr dies vorwerfen. Im Laufe ihres Lebens wurde sie jedoch des Öfteren gefragt, wo sie her sei, was ihr letzten Endes den Anstoß gab, ihr Leben auf Papier und in die Bücherregale zubringen. Das Verhältnis zu ihrer leiblichen Mutter ist bis heute schwierig, denn schon als Kind wollte sie lieber bei ihrer Pflegefamilie in Buxtehude bleiben, als die Sommerferien in Nigeria zu verbringen. Eine Zeit lang lebte sie sogar vollständig bei ihrer eigentlichen Familie. Jedoch hielt es sie nicht lange dort, sie fühlte sich nicht wohl, ging schlichtweg ein, wie es eine Lehrerin bald bemerkte. Die eigenen Kinder von Einheimischen des Gastlandes erziehen zu lassen, war früher nicht unüblich, da sich diese die Sprache besser aneignen und irgendwann studieren konnten, um nach und nach die ganze Familie nachzuholen. Laut Brokowski-Shekete war dies wohl auch die Intention ihrer Mutter, nach welcher sie sich jedoch nicht gerichtet hat. Florence Brokowski-Shekete gründete die Agentur FBS intercultural communication und ist seit 1997 als freie Beraterin, Coach und Trainerin tätig. Zudem engagiert sie sich gegen den alltäglichen Rassismus. Eine Lebensgeschichte der außergewöhnlichen Art.

Die Unabhängigen bei »Leipzig liest extra © auf dem Youtube-Kanal der Kurt-Wolff-Stiftung. Screenshot von © Darlene Heß.

Danach erteilt Rebecca Salentin dem studierten Philosophen und Politikwissenschafter Anselm Oelze das Wort, welcher einfach ein Hotel buchte, in den Flieger stieg und mit Hilfe seines deutschen Passes einen Eindruck von Moria, den Flüchtlingen und der allgemeinen Situation bekam. Dabei stellte er sich die Frage, weshalb es ihm sein Pass derart einfach macht in fremde Länder zu reisen, während bestimmte Menschen aufgehalten und mit unangenehmen Fragen durchlöchert werden. Es werden unmenschliche Verhältnisse beschrieben, wie zwei Familien in einem kleinen Kugelzelt hausen müssen, welches für nur fünf Personen ausgelegt ist, wie Platz für 1100 Zelte gefunden wurde, aber sieben- bis achttausend Menschen ohne ein Dach über ihren Köpfen im Lager leben. Es gibt weder Privatsphäre noch ausreichend Hygiene oder drei vernünftige Mahlzeiten täglich. Und die Situation hat sich bis heute nicht wirklich verbesser. „Ist ein Verdienst/ eine Leistung Deutsch zu sein? – Nein.“ Nicht nur eine Reportage, wie es sie in zahlreichen Varianten gibt, sondern eine schmerzende Wahrheit, die einem die Augen öffnet.

Für Interessierte ging es anschließend mit dem Thema „Klangvoll“ weiter. Judith Keller stellte „Oder?“ vor, ein Buch, in dem die Protagonisten ihren Plot selbst bestimmen und Anja Utler war mit „kommen sehen. Lobgesang“ anwesend. Ein postapokalyptisches Langgedicht.

Der Abend bot etwas für jeden Geschmack.

Beitragsbild: Die Unabhängigen bei »Leipzig liest extra © auf dem Youtube-Kanal der Kurt-Wolff-Stiftung. Screenshot von © Darlene Heß.


Die Veranstaltung: „Die Unabhängigen“, ein Forum der Kurt Wolff Stiftung mit Moderatorin Rebecca Maria Salentin im Gespräch mit Lena Müller, Florence Brokowski-Shekete, Anselm Oelze, Anja Utler und Judith Keller. Youtube


Die Bücher:

Lena Müller: Restlöcher. Edition Nautilus 2021. 128 Seiten, 18 Euro, E-Book 14,99 Euro

Lorence Brokowski-Shekete: Mist, die versteht mich ja! Aus dem Leben einer Schwarzen Deutschen. Orlanda Verlag 2020. 250 Seiten, 22 Euro, E-Book 15 Euro

Anselm Oelze: Die Grenzen des Glücks. Eine Reise an den Rand Europas. Schöffling & Co. 2021. 112 Seiten, 15 Euro, E-Book 11,99 Euro

Anja Utler: kommen sehen. Lobgesang. Edition Korrespondenzen 2020. 128 Seiten, 18 Euro

Judith Keller: Oder? Der gesunde Menschenversand 2021. 274 Seiten, 22 Euro


 

 

Die Rezensentin: Darlene Heß