Du bist die Neue Zeit

Tom Saller liest anlässlich des 100jährigen Bauhausjubiläums aus seinem Debütroman »Wenn Martha tanzt« in der Buchhandlung Grümmer.

© List Verlag

Die kleine Martha wird 1900 im pommerschen Türnow geboren. Vater Otto, Direktor der örtlichen Musikschule, Mutter Elfriede und der Pianist Wolfgang sind ihre drei Eltern. Wolfgang entdeckt Marthas Fähigkeit zu sehen, was sie hört, und zu hören, was sie sieht. Die Musik lässt in ihrem Inneren geometrische Figuren entstehen, sie lebt in der Musik. So ist es Wolfgang, der ihr empfiehlt, am neugegründeten Staatlichen Bauhaus in Weimar herauszufinden, was sie mit ihrem ungewöhnlichen Talent anfangen kann.

Tom Saller liest aus seinem kürzlich veröffentlichten Debütroman »Wenn Martha tanzt« in der Buchhandlung Grümmer im Leipziger Westen. In unmittelbarer Nähe finden sich einige der wenigen verbliebenen Bauhaus-Denkmäler der Stadt: Das Westbad an der Karl-Heine-Straße und die Konsumzentrale an der Industriestraße. Durch die urige Buchhandlung geht es direkt in den Garten. Ein gewundener Weg führt vorbei an Schneeglöckchen zum kleinen Gartenhaus, in dem ungeahnt viele Besucher Platz finden. Immer mehr Stühle werden hervorgezaubert, jeder Winkel im holzvertäfelten Häuschen wird genutzt.

Tom Saller. © Anett Kuerten

Tom Saller, Jahrgang 1967, studierte Medizin und arbeitet als Psychotherapeut in der Nähe von Köln. Sein Roman hat einen autobiografischen Kern. Die Diskrepanz zwischen nüchterner Schilderung und tatsächlich Erlebtem in einem Brief seiner Großmutter Martha regten Sallers Fantasie an. Der komplette Roman ist ein Spiel mit Fakten und Fiktion und lässt die Geschichte wie einen Hollywoodfilm vor dem inneren Auge des Lesers ablaufen. Die halbseitigen historischen Einordnungen sind getrennt von der Handlung, die schnörkellose Erzählung lehnt sich in ihrer Verknappung an den Bauhausstil an und lässt die besondere Atmosphäre in Weimar am Vorabend des Nationalsozialismus lebendig werden. »Ich schreibe und die Figuren – jede einzelne – machen was sie wollen. Ich als Autor darf mich nicht dagegenstellen«, sagt Saller.

Der Roman wechselt zwischen zwei Zeitebenen. Die Rahmenhandlung beschreibt die Geschichte des jungen Studenten Thomas Wetzlaff, der 2001 nach New York reist. Im Gepäck das Tagebuch seiner Urgroßmutter Martha mit Originalskizzen von Klee, Feininger, Kandinsky und anderen Künstlern des Bauhaus, für das ein zweistelliger Millionenbetrag geboten wird. Mit dem schwarzen Büchlein, das er im Nachlass seiner verstorbenen Großmutter Hedi gefunden hat, tritt zum ersten Mal eine Herausforderung in sein Leben. Für ihn ist Marthas Geschichte wertvoller als die Zeichnungen von Kandinsky und Co. Großmutter Hedi erzählte nie von der pommerschen Herkunft und der traumatischen Flucht mit dem einstigen Kreuzfahrtschiff Wilhelm Gustloff, das in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs vor der Küste Pommerns mit 10.000 Geflüchteten an Bord versenkt wurde. Was damals aus Martha geworden ist und wer Hedis Vater war, bleibt unklar. Thomas beschließt, Marthas Aufzeichnungen in eine literarische Form zu bringen und um ihre Kindheit zu ergänzen.

1919 geht Martha nach Weimar. »Ich fotografiere die Ankunft einer neuen Zeit«, sagt Fotografin Ella, die sie am Bahnhof in Empfang nimmt. »Du bist wirklich die Neue Zeit, du willst am Bauhaus studieren.« Martha entdeckt das Tanzen für sich und tanzt fortan die Figuren, die sie in der Musik sieht. Begeistert schauen die Bauhaus-Künstler ihr dabei zu und zeichnen ihre Assoziationen in Marthas Tagebuch. Das Tagebuch mit den Originalen wird schließlich für 45 Millionen Dollar ersteigert. Doch wer ist die anonyme Bieterin? Das wird nur im Buch verraten, aber zum Ende der Lesung erklärt Saller noch: »Wenn Martha tanzt« sei eigentlich schon sein dritter Roman. Davor gebe es zwei unveröffentlichte, ein Manuskript liege schon bei Ullstein.

Beitragsbild: Tom Saller während der Lesung im Gartenhaus der Buchhandlung Grümmer. © Irene Herrmann


Die Veranstaltung: Tom Saller liest aus »Wenn Martha tanzt«, Buchhandlung Grümmer, 15.3.2018, 19.30 Uhr

Das Buch: Tom Saller: Wenn Martha tanzt. List Verlag, Berlin 2018, 288 Seiten, 20 Euro


 

 

Die Rezensentin: Irene Herrmann