Viktor Kalinke stellt auf der Leipziger Buchmesse die erste vollständige deutsche Übersetzung des »Zhuangzi« vor, die er in sieben mühevollen Jahren erarbeitet und editiert hat.
Im 90-Grad-Winkel zwischen zwei Gängen in Halle 5 befindet sich ein kleines Juwel. Es ist der Eckstand G221, geteilt von der Zeitschrift Ostragehege und dem Leipziger Literaturverlag. Auf den einzigen Hockern sitzen bereits Axel Helbig, Redakteur beim Ostragehege, und Viktor Kalinke, der den Leipziger Literaturverlag 1998 noch unter dem Namen Edition Erata selbst mitgründete. Heute ist er allerdings als Übersetzer und Autor hier, denn letztes Jahr erschien nach sieben Jahren Editionsarbeit endlich seine zweisprachige Ausgabe des »Zhuangzi«, die den ersten vollständigen deutschen Übersetzungstext des etwa 2.300 Jahre alten chinesischen Werkes enthält.

Die Lesung beginnt nach einer kurzen Vorstellung des Autors direkt mit einigen Fragen des Moderators Helbig an Kalinke. Was genau hat ihn dazu angeregt, diese Mühe auf sich zu nehmen? Eine Diskussion über vorherige Ausgaben des »Zhuangzi« entsteht, und es ist zunächst fast unmöglich, dieser ohne ausgiebiges Vorwissen zu folgen. Letztendlich hat der deutschsprachige Raum in den letzten 100 Jahren größtenteils mit der Ausgabe von Richard Wilhelm gearbeitet, der das Werk gekürzt und selbstständig neu zusammengesetzt hatte, und diese Unvollständigkeit wollte Kalinke nicht länger hinnehmen. Es geht darum, unseren Sprachraum der wieder neu entflammten internationalen Diskussion um den Daoismus anzuschließen. Er erklärt auch, dass in China der Autor Zhuangzi größtenteils als Dichter und Künstler gefeiert ist und der philosophische Gehalt des nach ihm benannten Buches neben der sprachlichen Schönheit seiner Texte in den Hintergrund tritt. Viele der chinesischen Idiome, die wie Überschriften als verkürzte Zeichenketten geschrieben werden, gehen noch immer auf Anekdoten aus dem »Zhuangzi« zurück.
»Wie Überschriften« ist ein Beispiel für die vielen kleinen Hinweise, mit denen Viktor Kalinke seinen Zuhörern immer wieder ermöglicht, in dem Dickicht aus Sinologie nicht den Anschluss zu verlieren. Er bricht die Dinge herunter und schlägt Brücken zum Bekannten – »das war der, dessen Terrakotta-Armee man heute bewundern kann« –, hält Blickkontakt zum Publikum und brennt mit funkelnden Augen für die Thematik. Dazu kommt, dass die knapp 20 Leute, die im Gang G der Halle 5 stehen und lauschen, wirklich aus Interesse da sind. Der Mangel an Sitzmöglichkeiten verbietet es, sich einfach aus Bequemlichkeit dazuzusetzen, und dieser Umstand verleiht der Lesung eine angenehme Seriosität.

Nachdem etwa die Hälfte der Zeit mit Fragen und Antworten vergangen ist, fragt Kalinke, ob er nicht einfach noch etwas lesen kann, die Schönheit des Textes ist sonst unvorstellbar. Es ist sympathisch, wie viel Leidenschaft er an den Tag legt, als er die Geschichte des gewaltigen Fisches Ku im Nordmeer vorliest, der sich in den Vogel Pong verwandelt und zum Südmeer fliegt. »Ein Pilz, der morgens sprießt, weiß nichts von Tag und Nacht. Wenig Wissen reicht an großes Wissen nicht heran.«
»Es ist die Philosophie der Freiheit, die Zhuangzi in seinem Werk beschreibt«, sagt Kalinke, »immer auf das Individuum fokussiert.« Der einzelne wird ermutigt, sich nicht vom Alltag verformen zu lassen und sich auch der Muße hinzugeben. Und obwohl es nie Zhuangzis Intention war, politisch zu beraten, stellt er uns damit nicht bereits vor über 2.000 Jahren das Ziel ultimativer politischer Freiheit vor?
Es gäbe noch viel mehr zu sagen, aber diese halbe Stunde Eintauchen in einen fremdartigen Kulturkreis und ein ungewohnt bildhaftes Konzept von Philosophie ist bereits vorüber. Das uralte und auf ewig aktuelle Thema der persönlichen Freiheit ebenso wie der hochintellektuelle, dabei niemals abgehobene Viktor Kalinke erwecken den Wunsch, noch viel länger und tiefgründiger zuzuhören.
Beitragsbild: Zhuangzi und die Fische. Titelbild der Broschüre des Leipziger Literaturverlages für die Buchmesse 2018. © Leipziger Literaturverlag
Die Veranstaltung: Viktor Kalinke liest aus Zhuangzi, Moderation: Axel Helbig, Leipziger Buchmesse, Halle 5, Stand G221, 18.3.2018, 12 Uhr
Das Buch: Viktor Kalinke: Zhuangzi. Herausgegeben von Viktor Kalinke. Leipziger Literaurverlag, Leipzig 2017, 900 Seiten, 124,95 Euro
Die Rezensentin: Sophia Meyer
Vielen Dank für diese wunderbare Ausgabe!