Jahrzehntelang fühlte sich der Hamburger Journalist Till Raether zum verstimmt sein bestimmt. In seinem Buch erzählt er von seiner Depression und warum man es sich besser gehen lassen darf.
Wenn Till Raether auf der Buchmesse gelesen hätte, hätte er womöglich zuerst von seinem Morgen erzählt. Vielleicht wie er am Hotelbuffet, ein halbes weißes Brötchen mit Marmelade beschmierend, mit seiner Verlagsbetreuerin telefoniert hätte. Ein Morgen, wie er für einen Großteil seines Lebens aber nur unter großem Kraftaufwand und viel »sich zusammenreißen« möglich gewesen wäre.

In seinem autobiografischen Sachbuch »Bin ich schon depressiv oder ist das noch das Leben?« erzählt Raether von seiner Dysthymie, eine besonders langanhaltende Form der Depression. Der fragende Titel richtet sich gezielt an Menschen, die sich ähnlich fühlen, der Klappentext beginnt trotzdem ausholend mit »Depressionen kann alle treffen…«. Als selbst Betroffene sehe ich über Bücher, die mit solchen gleichgültigen Sätzen angeworben werden, eigentlich mittlerweile ermattet hinweg. Ich bin froh, dass ich das Buch trotzdem gelesen habe. Denn so generisch der Klappentext, so treffend und intim ist der Inhalt.
Herausstechend ist ein übersehenes Gefühl: die Scham. Nicht die Scham zu sagen, dass es einem akut nicht gut geht – das sprach Raether, zumindest seiner Frau gegenüber, jahrzehntelang aus. Sondern die lähmende und langanhaltende unterschwellige Scham darüber, am Leben zu leiden, sich kaum freuen zu können und nicht belastbar genug zu sein. Das Herausstellen dieses tief verborgenen Stigmas (Raether nennt das »Unglücklichkeit«) ist der große Gewinn dieses Buches. Manche Sätze wirken wie das Rauchen einer Friedenspfeife zwischen dem Autor und seiner Krankheit, die er erst seit wenigen Jahren selbst annehmen lernt.
Am Ende wünscht Raether uns, dass wir es uns gut gehen lassen. Seine Art des Gutgehens hat mit Gesprächstherapie zu tun, und damit, dass er seit den Antidepressiva sich besonders gern in leicht kratzige Wolldecken einkuschelt. Sein hoffnungsvoller Ton, der weder dramatisiert noch beschönigt, wirkt ein wenig wie die ehrliche Version der geschwungenen Buchstaben des Pinterest-Spruches »It’s okay not to be okay.« Und ich spüre dank dieser berührenden und glaubhaften 128 Seiten genau, was er damit meint.
Beitragsbild: © Stephanie Brinkkoetter
Das Buch: Till Raether: Bin ich schon depressiv oder ist das noch das Leben? Hamburg: Rowohlt Polaris, 2021. 128, S. 14 Euro