In »Flucht, Exil und Migration in der Literatur« trifft die historische Deutung der Begriffe die aktuelle Situation – im lyrischen Kontext.
Wenn heute über die Begriffe Flucht und Migration gesprochen wird, dann ist die Thematik für viele klar. Es geht um die politische Situation in der Welt, die dazu führt, dass Menschen ihr zu Hause verlassen (müssen) und in Ländern um Asyl bitten, in denen sie sich sicher fühlen. Die deutsche Gesellschaft hat diese Situation ab Herbst 2015 besonders stark wahrgenommen und diskutiert. In der Literatur ist das ein bisschen anders. Wird dort von Flucht, Exil und Migration geschrieben, liest man schnell von literaturhistorischen Phänomenen. Exilliteratur beschäftigt sich oft mit den Umständen und Folgen des zweiten Weltkrieges – aber nicht mit 2015 oder heute. Das Buch »Flucht, Exil und Migration in der Literatur« will eine Brücke schlagen: Syrische und deutsche Germanisten und der deutsch-arabische Lyriker Adel Karasholi wollen historische Literatur mit der heutigen Zeit verbinden.

Das Fürstenzimmer in der Bibliotheca Albertina ist gut gefüllt. Germanist und Autor Dieter Burdorf führt durch den Abend, die Autoren Stephanie Bremerich, Abdalla Eldimagh und Adel Karasholi sind ebenfalls vor Ort. Karasholi trägt zu Beginn sein Gedicht »In der Fremde Daheim« vor. Es geht um ein lyrisches Ich, welches sich in der Fremde orientiert, um diese ein neues Zuhause nennen zu können. Der 81-jährige Lyriker spricht anschließend über seinen bisherigen Werdegang. Anfang der sechziger Jahre kam er nach Leipzig, studierte am Literaturinstitut und ist seitdem freier Schriftsteller. Seine Lyrik umrahmt die anderen elf Texte der Germanisten im Buch.
Karashouli sagt, dass sich die Fremde – die er in Deutschland zu Beginn fühlte – nicht mehr fremd anfühle. Warum das so sei, welchen Part die Literatur dabei einnehme und welchen die Gesellschaft, wie er die Situation in den Sechzigern und heute wahrnehme, erfahren wir nicht. Mit der Aussage: »Die Wirkung der Literatur im medialen Zeitalter muss hinterfragt werden. Die Musterbilder in den Medien prägen unterbewusst unsere Meinungen«, wagt sich Karasholi mit einem Fuß auf das Eis der aktuellen gesellschaftlichen Debatte – nimmt aber genau diesen wieder vom Eis, als er in einer seiner Antworten nachdenklich wird und sagt: »Da müsste man über den politischen Zusammenhang sprechen.« Und ja, genau diesen Mut wünscht man sich.
Bevor die knapp bemessene Stunde endet, kommt Abdalla Eldimagh zu Wort. Er ist Germanist und studierte in Damaskus und Leipzig. Er geht auf sein Kapitel des Buches ein, in welchem er den medialen Begriff »Flüchtlingskrise« diskutiert. Er provoziert absichtlich mit der Darstellung von Flüchtlingen, um zum Nachdenken anzuregen. Laut Eldimagh werden Flüchtlinge medial als ein Stereotyp dargestellt. Und das werde den flüchtenden Menschen nicht gerecht, weil sie einzelne Individuen seien, mit einem eigenen Charakter, einer eigenen Geschichte, die man einzeln betrachten müsse. Diese Worte lassen einen selbst ertappen, dass wir mit einer Grundlage urteilen, die nicht vollständig ist. Doch diese Lesung verschenkte leider viele Chancen, ihre Gäste genau an diesen Stellen zu bilden. Im Buch ist von »persönlicher Involviertheit« und der Fragestellung »Welche Perspektiven eröffnen literarische Texte auf die tagesaktuellen gesellschaftspolitischen Debatten?« die Rede. Genau jene zwei Punkte bleiben an diesem Abend sehr wenig berührt. Die Autoren mit literaturhistorischem Kontext und eigenen Erfahrungen hätten Flucht, Migration und Exil in einen Kontext setzen können – in einen literaturhistorischen als auch einen politischen und gesellschaftlichen. Und das hätte die gesamte Veranstaltung greifbarer gemacht.
Beitragsbild: Dieter Burdorf, Stephanie Bremerich, Abdalla Eldimagh und Adel Karasholi (v.l.n.r.) © Marvin Kalies
Die Veranstaltung: Lesung Flucht, Exil und Migration in der Literatur. Syrische und deutsche Perspektiven, Bibliotheca Albertina – Fürstenzimmer, 15.3.2018, 15 Uhr
Das Buch: Dieter Burdorf, Abdalla Eldimagh und Stephanie Bremerich: Flucht, Exil und Migration in der Literatur. Syrische und deutsche Perspektiven. Berlin 2018, 271 Seiten, 35,00 Euro
Der Rezensent: Marvin Kalies