Das Schwein, die Querschnittmaterie

Im imposanten Lesesaal West der Bibliotheca Albertina präsentiert der deutsche Buchpreisträger Robert Menasse im Gespräch mit Moderatorin Luzia Braun seinen EU-Roman »Die Hauptstadt«.

© Suhrkamp Verlag

Am Morgen des 22. März 2016 sprengte sich ein islamistischer Terrorist in der Brüsseler U-Bahn-Station Maelbeek in die Luft. Er hat dabei mindestens 20 Menschen mit in den Tod gerissen. Zu diesem Zeitpunkt prangerte die letzte Seite von Robert Menasses, erst ein Jahr später veröffentlichtem, Roman »Die Hauptstadt« bereits vollendet über seinem Schreibtisch. Auf dieser letzten Seite, die Robert Menasse traditionell nach Fertigstellung des ersten Kapitels verfasst, um dann auf sie hinzuzuarbeiten, sowie ein Langläufer auf seine Ziellinie hinarbeitet, wird ein Terroranschlag geschildert, der einigen Figuren seiner Geschichte das Leben kostet. Das Bizarre ist, dass auch der fiktionale Terroranschlag in der U–Bahn-Station Maelbeek stattfindet. Die traurige Realität kam dem Autor zuvor.

Für vier Jahre zog Menasse nach Brüssel um den Apparat der EU und seine Mitglieder intensiv zu erforschen. Herausgekommen ist ein Buch, das von der Presse als erster EU-Roman überhaupt gefeiert wird. Menasse kann kaum glauben, dass niemand vor ihm dieses Projekt angegangen ist. So sei doch jeder Romancier naturgemäß der Erzählung des bedeutungsvollsten Aspektes der eigenen Lebenszeit verpflichtet, wie Menasse in einem kurzen Exkurs der Literaturtheorie erklärt. Und was gäbe es gegenwärtig bedeutsameres als das Projekt der Europäischen Union.

Robert Menasse signiert sein Buch nach der Lesung. © David Seeberg

»Die Hauptstadt« erzählt von sechs Protagonisten, deren Biografien tief in das europäische Erbe hineinreichen. Sie haben zwar unterschiedliche Nationalitäten und Berufe, doch ihre Schicksale sind allesamt mit dem der Europäischen Union und seines häufig verspotteten bürokratischen Apparates verwoben. Ausgangspunkt ist der anstehende Geburtstag der Europäischen Kommission. Von da entfalten sich mehrere Erzählstränge. Klug konstruiert geben sich im Verlauf der Handlung Komödie, Kriminalroman und Geschichtsstunde die Klinke in die Hand. Als Leitmotiv werden die Handlungsebenen von nichts Anderem als einem entlaufenen Schwein zusammengehalten, das die Straßen von Brüssel unsicher macht. Das Schwein hat Menasse gewählt, weil er keinen Gegenstand finden konnte mit dem sich mehr Generaldirektionen der Europäischen Kommission beschäftigen – von seiner Geburt an, bis zur Verwertung seiner fleischlichen Überreste.

Von den Erfahrungen, die Menasse während seiner Arbeit an dem Roman erlebt hat, ist die Terroranschlag-Sequenz sicherlich die eindrücklichste. Doch auch die anderen Geschichten aus Brüssel, die Menasse mit den Besuchern teilt, sind interessant anzuhören. Das Publikum füllt den altehrwürdigen Lesesaal West der Albertina bis auf den letzten Platz, die Balkone der Galerie eingeschlossen: eine beeindruckende Kulisse. Vor dem alle Altersgruppen umfassenden Publikum sitzt einer der aktuell prominentesten intellektuellen Kämpfer für die Idee der Europäischen Union. Die Generation, die gegenwärtig die politische Macht hat, wisse nicht mehr worum es geht, hält Menasse fest. Ein Drittel des EU-Parlaments versuche ebendies auszuschalten. Vor diesem Hintergrund scheint der Saal der Universitätsbibliothek passend gewählt zu sein. Unter der Woche sitzt hier eine Generation junger Europäer und büffelt. Eine Generation, die sich einer schwierigen Aufgabe gegenüber gestellt sieht: Den Karren aus dem Dreck ziehen.

Beitragsbild: Robert Menasse (im Hintergrund) und das Publikum in der Albertina. © David Seeberg


Die Veranstaltung: Robert Menasse »Die Hauptstadt«, Bilbiotheca Albertina, 17.3. 2018, 19.30 Uhr

Das Buch: Robert Menasse: Die Hauptstadt, Suhrkamp Verlag, Wien 2018, 459 Seiten, 24,00 Euro, E-Book 20,99 Euro

 


 

 

Der Rezensent: David Seeberg