Über Kristina Hänels zweites Buch »Das Politische ist persönlich – Tagebuch einer ›Abtreibungsärztin‹« sowie ihren Einsatz für Informationsrecht bei Schwangerschaftsabbrüchen
Die Lesung findet um 17 Uhr statt. Zeit genug also, um die anbahnende Reizüberflutung des Buchmesse-Samstages zu spüren. Ich stehe schon 15 min vor Lesungsbeginn in Halle 5 vor dem taz-Studio. Die Wände sind rot, mittig davor ein schwarzes Sofa auf dem maximal zwei Leute bequem Platz haben. Rechts vom Sofa ein großer Bambusstrauch, daneben ein Screen auf dem der Titel der momentan laufenden Veranstaltung zu lesen ist. Das Gespräch ist noch in vollem Gange. Es fallen Worte wie Gaia-Theorie, Goethes Farbenlehre, Polaroids, Netzhaut und Newton. All diese Fetzen höre ich, kann sie jedoch, erschöpft vom Tag, nicht mehr in ein kohärentes Bild ordnen.
Die beiden Herren sind fertig. Nun findet ein Wechsel des Publikums statt und die Menschen, zu 70% Frauen aller Altersklassen, strömen platzsuchend auf die mit Büchern bedruckten Papphocker. Dinah Riese, Journalistin der taz und Kristina Hänel erscheinen unter Applaus. Hänel setzt sich. Als der Applaus jedoch nicht verebbt, steht sie auf, verbeugt sich lächelnd und setzt sich erneut. Wie sympathisch, denke ich sofort.

Das Verhältnis zwischen der Moderation Riese und Hänel, die auch heute Barfußschuhe trägt, wirkt vertraut. Ist es auch. Denn Dinah Riese interviewte die Allgemeinmedizinerin im September 2017 zum ersten Mal. Seitdem ist viel passiert. Der Prozess wird heute nicht so detailreich wiedergegeben, wie im intimen (Tage-)Buch. Es reichen schließlich die Meilensteine: Anzeige durch Yannic Hendricks, einem Studenten Mitte 20, der neben ihr, nach eigenen Angaben, bis zu 70 weitere Ärzte wegen »Werbung für Schwangerschaftsabbrüche« anzeigte, Mobilmachung und Inbezugnahme der Medien und der Öffentlichkeit, Prozess, Urteil: 6.000€ Strafe. Doch hier endet die Geschichte noch lange nicht. Es wurde Revision eingelegt. Später sind erforderlichenfalls weitere Feldzüge vor das Bundesverfassungsgericht nicht ausgeschlossen.
Es ist motivierend und bestärkend, mit welcher Klarheit Hänel spricht. Hierbei muss ich an eine Passage des Buches denken, als der, ihr bis dato unbekannte, Umgang mit den Medien beschrieben wird. Sie formuliert etwas salopp, wie wichtig es ist, authentisch zu bleiben und Fragen individuell zu beantworten. Dies ist auch heute deutlich spürbar. Sie überlegt stets und reagiert konkret und spezifisch, nicht mit auswendig gelernten Plattitüden.
Diese wirklich persönliche Seite macht das Buch sowie die Lesung so besonders. Das Buch ist durch seine Umgangssprache und teilweise repetitiven Erzählungen kein rhetorisches Meisterwerk, sondern als realistisches Tagebuch zu verstehen. Darum geht es schließlich: Die persönliche Authentizität als Mittel gegen Ungerechtigkeit.
Es werden zwei Passagen gelesen: ihre Beschreibung des Prozesses sowie als zweiten Ausschnitt Briefe von Unterstützer*innen. Beim Vortragen wirkt sie nicht wie eine Verliererin.
Die Auswahl der Texte verdeutlicht überraschend gut die zwei Kontraste, die die Bewegung, welche durch die in Gießen tätige Ärztin gestartet wurde, auszeichnet. Auf der einen Seite staatliche Reglementierung, Unklarheiten in der Auslegung des Artikel 219a des Strafgesetzbuches und damit verbundener Kriminalisierung von Ärzt*innen.
Die andere Seite wird geprägt von persönlichen Erfahrungen, Geschichten, Ängsten und auch Hänels Vielfachbelastung zwischen Praxis, Rettungsdienst, Reittherapie, Musik ihrer Klezmergruppe, Familie und Partner.
Sie formuliert mit klarer, junggebliebener Stimme das, worum es geht: Informationsrecht. Dass die Information von Ärzt*innen, die ein umfangreiches Wissen über Abbrüche, sowie die eventuellen Folgen und medizinischen Voraussetzungen haben, als Werbung tituliert wird, ist nicht nur paradox. Es ist auch gefährlich. Denn: »Wenn Frauen Abbrüche machen wollen, werden sie einen Weg finden. Ist er illegal, kann dies teilweise tödlich enden.«
Am Ende ist Zeit für Gespräche. Mittels Facebook-Livestream können auch Zuschauer*innen, die gerade nicht in Leipzig anwesend sind, zuhören und Fragen stellen. Auf die Erkundigung, ob sie die Erfahrung gemacht habe, dass Frauen nach einem Eingriff jene Entscheidung bereuen, antwortete Hänel: »Frauen leiden an Stigmatisierung. Frauen leiden an den Hürden. An den Hürden, und nicht am Abbruch.« Langer Applaus.
Meine einstige Müdigkeit ist verflogen. Die Zeit verging wie im Flug. Gern hätte ich noch länger dagesessen und mich von ihrer klugen, bedachten Art und ihrem reflektierten Optimus inspirieren lassen.
Diese Lesung, das Buch, Kristina Hänel als Person geben Kraft. Sie machen Mut für Durchsetzungsvermögen gegen Ungerechtigkeit. Sie spenden Ausdauer für Kämpfe, die es wert sind.
Beitragsbild: Kristina Hänel (rechts) im Gespräch mit Dinah Riese (links) auf dem Sofa des taz Studios. © Mirjam Zeise
Die Veranstaltung: Kristina Hänel liest aus Das Politische ist persönlich – Tagebuch einer »Abtreibungsärztin«, Moderation: Dinah Riese, taz Studio Halle 5, 23.03.2019, 17.00 Uhr
Das Buch: Kristina Hänel: Das Politische ist persönlich – Tagebuch einer »Abtreibungsärztin«. Argumente Verlag und Ariadne, Hamburg 2019, 250 Seiten, 15 Euro
Die Rezensentin: Mirjam Zeise